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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

Solche Tempel baut hier das Interesse von freien Associationen der plastischen Volksbildung! Das neue Gerichtsgebäude mit einer 300 Fuß langen Façade und 125 Fuß Tiefe gehört zu den prächtigsten und solidesten Kunstbauten Amerika’s. Auch das neue Postgebäude kann sich darunter zählen. Alle diese erwähnten Paläste bilden in Rue de Notre Dame, St. James und St. François Xavier Street den lokalen und geistigen Mittelpunkt der Stadt, die mit ihren etwa 60,000 Einwohnern so riesige Fortschritte macht, daß sie in wenigen Jahrzehenden zu den mächtigsten und blühendsten Städten Amerika’s gehören mag.

Das Wunder aller Wunder wird die große Victoria-Brücke, über deren Breite von zwei ganzen englischen Meilen (mit den Theilen über Land) die Eisenbahn hoch über den schäumenden Wogen des Lawrence dahinbrausen soll. Sie ist ein Werk des berühmten Bau-Giganten Stephenson, des Engländers, eines ehemaligen gewöhnlichen Mechanikers, der vorher sogar gemeiner Kohlenbergmann war.

Die größte Themsebrücke (Waterloo) ist 1242 Fuß lang. Die Länge der großen Victoria-Brücke wird 10,560 Fuß betragen.

Als Mittelpunkt des kanadischen Holz- und Rauchwaarenhandels bietet Montreal einen fast unerschöpflichen Stoff von Schilderung und Material. Beide Handelszweige sind von weltweiter Ausdehnung und in Bezug auf letzteren giebt der Verkehr mit den Indianern einen so reichen Stoff von pikanten Lebensbildern, daß ich wohl an einem andern Orte darauf zurückkomme.

Ich möchte Ihnen noch Manches von meinen Erlebnissen auf der Montreal-, der Jesus- und andern kleinern Inseln mittheilen, die hier der ungeheuere, aus ewigen Wäldern strömende Ottawafluß mit dem Lawrence bildet, aber es mischt sich so Vieles durcheinander, daß ich nicht weiß, was ich ergreifen und festhalten soll. Nur noch so viel, daß ich einige Tage bei einem alten französischen Ritter zubrachte, der alle feudalen Rechte des Mittelalters genießt und all’ sein Land an Vasallen gegeben, die ihm mit Zehnten, mit Treue und Frohnden zugethan sind. Das französische Element hat sich hier in vorrevolutionärer Form ganz frisch erhalten, während in den Städten die Angelsachsen französische Sprache und Sitten immer mehr zurückdrängen, wie denn überhaupt in allen neuen und alten Welten, die für den Weltverkehr neu auftreten, englischer Geschäftsgeist mit seiner kurzen, leichten, von allen grammatischen und periodischen Schwierigkeiten und Formeln befreiten, zähen Sprache überall so entschieden als tonangebend auftritt, daß das Englische in hundert Jahren wahrscheinlich die eigentliche Weltverkehrssprache sein wird.




Etwas Naturgeschichte.
4. Zur Ehrenrettung des Bären.

Der Bär, sagt der bekannte Thierkenner Toussenel, ist das Symbol wilder ursprünglicher Gleichheit und deshalb der Aristokratie ein Gräuel, abgesehen hiervon aber ein armes, schändlich verleumdetes Thier, über welches der Haß und die Unwissenheit die abgeschmacktesten Märchen ersonnen hat. Es giebt keine Art von Schändlichkeiten, die nicht von Anekdotenjägern benutzt worden wären, um die Lebensgeschichte dieses unglücklichen Vierfüßlers zu beschmutzen. In einem fürchterlichen, vor etwa hundert Jahren ohne königliches Privilegium erschienenen Buche, steht die Geschichte der Gräuelthaten eines braunen Bären im Juragebirge, welcher lange der Schrecken des Landes gewesen war und zwar in Folge seines unmäßigen Appetites nach dem Fleische junger Mädchen. Die menschliche Bosheit hat sich nicht damit begnügt, dem Bären Verbrechen und Immoralitäten zuzuschreiben, an denen er unschuldig ist, sondern man hat das arme Thier auch lächerlich und zur Zielscheibe unzähliger Mystifikationen gemacht. Die alten und neuen Schriftsteller wetteifern förmlich mit einander, ihm recht hinterlistige Streiche zu versetzen. Aelian, der Grieche, ein Fabeldichter und eben so beschränkter Kenner des Thierreichs wie Conrad Geßner, geht so weit, daß er den Bären zu einem Mörder des niedrigsten Grades, einem gemeinen Meuchelmörder macht, welcher zu seinem Vergnügen mordet, was doch eine nichtswürdige Verleumdung ist.

Toussenel hat in den Reisebeschreibungen vieler glaubwürdigen Seefahrer eine Menge Thieranekdoten gelesen, die eben so drollig sind, wie Aelian’s, aber auch eben so unwahrscheinlich. Neulich, sagt er, erzählte mir ein junger Pariser, der so eben aus Amerika zurückgekehrt war, die folgende Geschichte, deren Echtheit ich natürlich durchaus nicht verbürgen mag. Mein Begleiter und ich durchwanderten die ungeheuren Tannenwälder Californiens, die so merkwürdig wegen der Todtenstille sind, die in dem Schatten ihrer gewölbten Zweige herrscht. Eines Tages, als wir an den Rand einer der weiten offenen Waldwiesen kamen, die sich hier und da durch diese düsteren Einöden hinziehen, hörten wir in sehr kurzer Entfernung einen grunzenden Ton, welcher über unsern Köpfen herunterzukommen schien und in welchem mein Begleiter, ein Yankee aus der alten Schule, sofort die Musik eines Bären erkannte. Wir duckten uns und schlüpften durch die Büsche, indem wir uns bemüheten, zu ermitteln, wo das Thier säße. Ein zweites Grunzen in einem zornigeren Tone als das erste, auf welchen ein drittes sehr zufriedenes zu folgen schien, lenkte unsere Aufmerksamkeit auf einen gigantischen Kirschbaum ungefähr zwanzig Schritt vor uns, unter dessen Zweigen und in dessen Schatten eben ein sehr lächerlicher Auftritt stattfand. Die zwei Personen des Drama’s, von deren Unterhaltung wir einige Bruchstücke erhaschten, waren ein Bär und ein Wildschwein. Der erstere, ein Exemplar der ersten Größe, saß auf dem starken Aste des Kirschbaums und war emsig beschäftigt, die Früchte zu pflücken. Da diese aber fast überreif waren und nur noch lose am Stengel saßen, so geschah es, daß bei der leisesten Bewegung, die der Bär auf seinem Aste machte, gerade der delikateste Theil der Früchte dicht wie Hagel auf den Boden fiel. Das dumme Thier verlor alle Geduld und stieß grollend eine Menge zorniger Verwünschungen hervor; aus demselben Grunde war dagegen das naschhafte Wildschwein, welches eben am Fuße des Baumes stand, hoch erfreut und gab sein Vergnügen durch ein beifälliges gut, gut! bei jedem neuen Kirschregen zu erkennen. In dem Augenblick, wo wir auf dem Schauplatze ankamen, war die Erbitterung des Bären schon zur Rothglühhitze gestiegen und es war leicht zu sehen, daß sie binnen Kurzem zur Weißglühhitze übergehen würde. „O, mir ist ein köstlicher Gedanke eingefallen,“ flüsterte mir mein Yankeefreund in’s Ohr. „Wenn wir die furchtbare Erbitterung dieser beiden Thiere gegen einander benutzen könnten, um sie in einen tödtlichen Kampf mit einander zu verwickeln!“ – „Aber wie sollen wir das anfangen?“ – „Das ist sehr einfach; ein Lauf Eurer Doppelflinte ist mit Schrot geladen; jagt diese dem jungen Herrn da in die weichste Stelle seines Körpers“ – und er zeigte mir mit dem Finger durch die Blätter hindurch den Theil des Bären, nach welchem ich zielen sollte. – „Ich kenne den Bären,“ setzte er hinzu, „und wenn er sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hat, so läßt er sich durch nichts wieder davon abbringen. Er ist jetzt sehr wüthend auf das Wildschwein und wird, wenn er sich getroffen fühlt, ganz gewiß glauben, das Wildschwein habe ihn geschossen. Ihr werdet sehen, wie er sich sofort auf seinen vermeinten Angreifer stürzt, um sich für diesen groben Scherz zu rächen. Ich verspreche Euch, daß wir viel Spaß haben werden.“ Gesagt, gethan. Ich zielte scharf nach dem zottigen Burschen und drückte ab. Kaum fühlte der Bär sich von den Schroten gekitzelt, als seine Wuth alle Grenzen überstieg und er wie eine Bombe auf das Schwein herunterplumpte, welches an dem Streiche eben so unschuldig, als über diesen unvermutheten Angriff verwundert war. Der Kampf dauerte nicht lange; der siegreiche Bär streckte seinen Gegner nieder, der ihm aber, ehe er starb, noch mit einem furchtbaren Ruck seiner Hauer, den Leib aufriß. Auch dem Bären entsanken daher bald die Kräfte und er taumelte und sank nieder auf die Leiche des erlegten Wildschweins. „Auf diese Weise,“ so schloß der Erzähler bescheidentlich seine Geschichte, „erwarb ich mir das Recht, mich zu rühmen, daß ich mit einer einzigen Ladung Hasenschrot einen schwarzen Bären und ein Wildschwein erlegt.“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 425. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_425.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)