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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

Boden Getreide und Früchte abzugewinnen. Alle die zahlreichen Städte, durch welche wir kamen, sind Bienenkörbe emsiger Industrie. Die vorzüglichsten davon sind Worcester („Wuster“) und Springfield, letztere am schiffbaren Connecticutflusse, der durch grüneres, freundlicheres Land fließt. Die Häuser wurden hier häufiger und freundlicher und in der That so lieblich, daß ich mir nichts Schöneres denken kann, als in einem solchen zu leben. Weiß und rein und grün bewachsen mit üppigen, blühenden Vorgärten und gemüthlichen Portalen vor dem Eingange gucken sie da überall aus cultivirter Natur heraus, als wären sie eben frisch als Spielzeug aus der Schachtel genommen und aufgestellt worden.

Hinter Springfield hielt der Zug um Mitternacht plötzlich mitten im offenen Felde an. Locomotivführer, Heizer und einige Passagiere liefen mit Laternen in die Nacht hinein. Neugierig folgte ich und fragte, was hier los sei? „I nun weiter gar nichts! Wollen sich blos den Zug ansehen, der heute früh hier umstürzte!“ Richtig, die Herren beleuchteten mit ihren Laternen umgestürzte Waggons, deren Räder schauerlich in den nächtlichen Himmel emporragten und die halb in die Erde gewühlte Lokomotive. Alles war still. Man hatte die Verwundeten und Todten entfernt, welche nur hier und da Blutspuren, Lappen und Bindfaden zurückgelassen. Als Locomotivführer und Heizer (denn diese hatten sich ohne Weiteres die Freiheit genommen) ihre Neugier befriedigt hatten, rasten sie weiter in die Nacht hinein, gerade als wollten sie selbst probiren, was sie sich eben mit viel Kennermiene angesehen.

In Albany am Hudson verlebte ich einen echt amerikanischen Sonntag. Wir waren um 2 Uhr des Nachts angekommen, und als ich des Morgens im Delawar-House mein Fenster aufmachte, sah ich den Sonntag durch die langen, hohen, breiten Straßen und den Hudson hinauf in feierlicher Ruhe ausgestreckt. Selbst die Bäume, die auch hier, wie in den meisten andern amerikanischen Städten, in doppelten, schattigen Reihen durch die breiten Straßen sich ausdehnen, schienen zu ruhen und in christlicher Andacht ihr Rauschen und Blätterflüstern eingestellt zu haben. Nur unten am Werfft saßen einige Schiffer und beschäftigten sich gedankenlos mit Rauchen. Kein Ton, kein Lebenszeichen in der sonnigen Stille. Doch ja. Dort hat sich ein Straßenprediger mit der Bibel auf einen Stein gestellt und predigt leidenschaftlich in die Luft hinein, in der hier und da ein Paar Jungen und alte Weiber ein Weilchen stehen bleiben, so daß er mit jeder Minute eine neue andächtige Gemeinde an sich heranzieht, aber eben so schnell wieder zu vertreiben scheint. Solche Straßenheilande trieben ihr Unwesen bis tief in die Nacht hinein. – Und dabei die vielen prächtigen Kirchen, die mit Teppichen belegt und wie der schönste Prachtsaal des Millionärs ausdecorirt, mit einander in irdischer Herrlichkeit wetteifern, um bei der freien Concurrenz so viel als möglich zu machen. Sogar Sammetsopha’s sah ich in einer, und auf dem Chore führte ein bezahltes Sängerchor eine künstliche Fuge mit viel Präcision durch. Alle Kirchen sahen so weltlich aus, daß man darin eben so gut einen Artikel aus der „Gartenlaube“ von der Kanzel vorlesen könnte und viele gewiß mit mehr Erfolg, als die Prediger mit ihren Anstrengungen den Leuten auf den Sammetsopha’s das „irdische Jammerthal“ noch jämmerlicher zu machen.

Von Albany führte mich der Montagszug wieder mitten durch und über Straßen hin, durch wellenförmiges, ziemlich dicht bebautes Land über viele Brücken von Flüssen, die in den Mohawk münden, durch hölzerne, nette Dörfer 52 Meilen weit nach Ballston Spa, wo die Eisenbahn, wie eine Kutsche, vor den hauptsächlichsten Hotels anhält, um Passagiere aufzunehmen und abzusetzen. Dieses Spa ist einer der berühmtesten Badeörter Amerika’s, noch mehr das 7 Meilen weitere Saratoga, das im Sommer von fashionablen Gästen wimmeln soll. Jetzt standen die kolossalen Hotels und breiten, langen Promenaden öde und leer. Ich sah hier weiter nichts Merkwürdiges, als ein Haus, welches auszog, um sich eine bessere Baustelle zu suchen. Es wanderte ganz gemüthlich auf seinen Walzen hin, während eine Mutter mit ihrem lockigen Kinde im zweiten Stockwerke sich über diese originelle Art zu verreisen, während man ruhig zu Hause bleibt, königlich zu amusiren schienen.

Die 200 Meilen nördlich von Saratoga am langgestreckten Champlain-See hinunter bis Montreal gehören zu den schönsten Scenen, die man in Amerika sehen kann, wie man mich wiederholt versicherte. Ich übergehe hier die Menge Orte und Punkte, welche durch den Krieg zwischen England und Frankreich und den amerikanischen Befreiungskampf historisch berühmt wurden und bemerke nur, daß die ehemaligen Forts und Festungen überall in Ruinen liegen, weil hier Niemand daran denkt, daß jemals Festungen wieder eine Rolle spielen könnten! – Glückliches Amerika!!

Auch den von Dampf getriebenen Prachtpalast, der uns den 132 Meilen langen und 6 bis 9 Meilen breiten See hinauf trug, will ich hier nicht beschreiben und mich eben so wenig auf die an beiden Ufern, deren eins zu New-York, das andere zu Vermont gehört, sich grün und hügelig und bergig erhebenden und streckenden Landschaften einlassen, da man hier mit Worten gar wenig ausrichten kann. – Hinter Plattsburg auf der New-Yorkseite stiegen wir aus dem Dampfboote in Eisenbahnwaggons, die uns bald über die Grenze von Unter-Canada bis an die Ufer des majestätischen Lawrence-Flusses brachten, über dessen meilenweite Breite uns ein Dampfschiff nach seiner Hauptinsel – Montreal – überführte. Noch eine kleine Eisenbahntour – ganz Englisch und in französischer Sprache geführt – und wir sind in der alten Hauptstadt des französischen Canada von Ehemals, in Montreal.

Montreal! Welch ein überraschender Anblick nach den Scenen der neuen Welt, wo Alles jung, weiß, frisch aussieht ohne historischen Boden, während hier Alles in Stein und Mauer, Bauart, Tracht und Sprache Geschichte erzählt. Enge Straßen, französische Firmen, Klöster mit hohen Mauern, von der Zeit angefressene Steine und Einrichtungen, hier aus Paris, dort aus dem Parlamente in London, hier französische Tracht, Sitte und Sprache, dort englische, dort gemischt in seltsames Kauderwälsch, alte feudale Institutionen neben modernen patentirten Fabriken, Nonnen neben Manchesterwaaren, Gerichtsscenen in französischer Sprache, im Zollhause englische Untersuchung in englischer Sprache mit englischem Gelde bezahlt, gallische Priester in langem Schwarz, kniehosige Presbyterianer aus Schottland, Droschkenkutscher in Frießjacken frisch von Irland, Marktkarrenschieber mit „eingebornen“ bunten Leibbinden und Nachtzipfelmützen – alte und neue Welt zusammengerüttelt wie in einem Lotterietopfe. So sieht Montreal aus. – In meinem Hotel liefen ein Dutzend Schwarze als Kellner herum – lauter Flüchtlinge aus der amerikanischen Freiheit. O die Freiheit ist schön, aber immer wieder der Schand-, der Blutflecken! Allmächtig ist Amerika, übermächtiger seine Baumwolle! Was heißt Freiheit, Menschenrecht, wenn darunter die südlichen Baumwollenpflanzer und die nördlichen Baumwollen-Spediteurs leiden sollen? Einige der Kellner waren schöne, gefällige, liebenswürdige Menschen, die im ganzen, großen, freien, christlichen Amerika drüben Jeder hätte todtschießen können, blos weil sie etwas Farbe und Stammbaum mit auf die Welt brachten.

Ich machte am Morgen nach meiner Ankunft einen Spaziergang nach dem Süden der Stadt hin, wo der meilenbreite, klare, majestätische Lawrence seine ungeheuern Wassermassen hinwälzt. Von drüben herüber winken flache Ufer und hinter denselben hervor die „Zuckerhutberge“ von Vermont. Am meilenlangen Bollwerk wimmelt ein unabsehbares Thun und Treiben von Laden und Löschen, Ankunft und Abfahrt von Segel- und Dampfschiffen, die, wie der große Verkehr in den Straßen, ganz an die täglichen Scenen in der City von London erinnern. Man kann hier kein einzelnes Bild geben und ausrahmen: Alles ändert sich in jeder Secunde. Nur Immobilien ließen sich studiren, z. B. die berühmte römisch-katholische Cathedrale zwischen den beiden prächtigsten Straßen „Rue Notre Dame“ und „St. James Street,“ deren Namen im Französischen und Englischen officiell sind.

Die Kirche ist der großartigste gothische Bau Amerika’s mit 10,000 Sitzen, aber mit so roh bemalten Säulen, daß das ganze Kunstwerk dadurch werthlos wird. Die Bankgebäude im griechischen Styl sind ihnen viel besser gelungen. Sie haben mehr Andacht für Bankgeschäfte, als deren Mittelpunkt für ganz Canada Montreal berühmt ist. Auch für Buchhandlungen, Lesezimmer, Schulen, Akademieen u. s. w. giebt es zum Theil herrliche Gebäude. Am Großartigsten ist das Institut für Mechaniker im italienischen heitern Style in St. James Street, von 84 Fuß Front und 64 Fuß Tiefe, mit einem schönen Portikus in der Mitte. Oben führt ein 55 Fuß langer, 10 Fuß breiter Corridor in einen Lesesaal, 40 Fuß lang und 241/2 Fuß breit, in die Bibliothek, Säle zu Vorträgen und physikalischen Experimenten. Ein Hörsaal in der zweiten Etage ist 80 Fuß lang, 60 Fuß breit und glänzend decorirt.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 424. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_424.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)