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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

No. 36. 1854.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteur Ferdinand Stolle.
Wöchentlich 11/2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 121/2 Ngr. zu beziehen.

Klementine.
Von August Schrader.

I.

Zu Anfang des Monats November im Jahre des Heils 1851 Abends gegen acht Uhr sah man einen jungen, elegant gekleideten Mann durch eine der engsten und schmutzigsten Straßen Berlins gehen. Seinen kurzen Talmamantel fest um die Schultern gezogen und den Hut tief in die Stirn gedrückt, verfolgte er eine Dame, die ihm in kurzer Entfernung voranging. Der Abend war nebelig und kalt; aber den Mann im Mantel plagte eine unerträgliche Hitze, sein Herz klopfte, und im Kopfe fühlte er ein leichten Sausen. Dieser aufgeregte Zustand, den er durch einen ruhigen, nachlässigen Gang zu verbergen suchte, ward dadurch erzeugt, daß er in der vor ihm hergehenden Frau eine Ähnlichkeit mit der schönsten Dame von Berlin entdeckte, einem züchtigen, herrlichen jungen Mädchen, das er bis zum Sterben, aber hoffnungslos liebte. Er war jung, er kannte Berlin, und deshalb wußte er auch den ganzen Umfang der Deutungen, denen sich ein junges und schönes Mädchen aussetzte, wenn man es um diese Stunde, in diesem Stadttheile allein und heimlich auf dem schlechten Pflaster erblickte.

Der junge Mann in bürgerlicher Kleidung war ein Offizier der königlichen Garde, und wenn man dies bedenkt, so kann seine Liebe romanhaft erscheinen; der Leser kann sich aber versichert halten, daß er eben so wahr als leidenschaftlich liebte, und daß der Gegenstand seiner Neigung vollkommen würdig war. Er liebte in der reizenden Klementine von Falk die Tugend selbst, die züchtige Grazie und die Achtung gebietende Heiligkeit. Klementine verdiente in der That der Gegenstand einer platonischen Liebe zu sein, einer Liebe, so hoch und rein, wie der Himmel in seinem heitersten Blau.

Die Nächte in Berlin bringen seltsame, fast unbegreifliche Wirkungen hervor, und der Beobachter derselben weiß, wie phantastisch eine Frau in den dämmernden Schatten erscheint. Man hält sie für ätherische Wesen, die wie Dämonen oder Irrwische durch einen brennenden Magnetismus den Beobachtenden mit fortziehen. Bei dem schwankenden falben Lichte der Gasflammen erhält Alles Leben und Colorit; die aufgeregten Sinne sehen die Frau in einem neuen Lichte, ihr Körper verschönt sich, und alle Glieder gestaltet die sehnsüchtige Vermuthung zu idealen Reizen.

Der flackernde Schein einer Gaslaterne fiel plötzlich in die Taille der unbekannten Schönen. Formen, so schwellend und anmuthig, konnte nur Klementine haben. Dieser leichte, schwebende Gang gehörte nur ihr an. Unter dem schwarzen Sammethute fielen schwere, dunkele Locken über den schneeweißen Hals herab; der weiche Shawl lag wie angegossen auf der schönen Büste, die reizenden Umrisse flüchtig abzeichnend. Der kleine Fuß, mit weißen Strümpfen und schwarzen glänzenden Saffianstiefelchen bekleidet, schien kaum den Boden zu berühren.

Der Offizier beschleunigte seine Schritte, ging rasch an ihr vorüber, und wandte sich, um ihr in das Gesicht zu sehen – sie war verschwunden. Eine heisere Klingel deutete die Thür an. Der junge Mann trat rasch zurück, und sah in einen langen finstern Gang, der durch eine Holzgitterthür von der Straße geschieden ward. Am Ende des schmalen Ganges zeigten sich die ersten Stufen einer beleuchteten Treppe. Leicht wie eine Sylphide schwebte die Schöne hinauf.

„Was ist das?“ fragte sich bebend der junge Mann. „Zu wem geht sie? Wer kann hier wohnen, den Klementine ohne Nachtheil für ihre Ehre besuchen darf? Und warum wählt sie den späten Abend?“

Er trat zurück und lehnte sich an die schwarze Mauer des gegenüberliegenden Gebäudes. Furchtbare Gedanken durchkreuzten seinen erhitzten Kopf. Das Haus war wie alle Häuser jener abgelegenen Straßen, gemein, eng und aus vier Stockwerken bestehend, deren jedes drei Fenster hatte. Die beiden schwarzen Laden den Erdgeschosses waren fest verschlossen. Da erhellten sich plötzlich zwei Fenster des zweiten Stocks, und der athemlose Lauscher glaubte den Kopf Klementine’s zu bemerken, deren Schattenrisse sich in den leichten Gardinen zeigten. Dann erlosch das Licht, und das verhängnißvolle Haus lag im Finstern.

Thränen der Wuth und Verzweiflung rannen dem armer Manne über die Wangen, er sah und fühlte Alles, was die vor einer furchtbaren Eifersucht erhitzte Phantasie nur erschaffen kann.

„Und wenn ich das Schrecklichste erfahre,“ dachte er, „ich muß wissen, ob ich mich täusche oder nicht. Vielleicht lerne ich den Grund kennen, der Klementine’s Großmutter veranlaßte, meine Annäherung entschieden zurückzuweisen. Ach, und sie, von der ich mich geliebt wähnte, billigt das Verfahren der alten herzlosen Frau. Sie richtet keine Zeile des Trostes an mich, sie vermeidet vielmehr die Zirkel, in denen sie mich zu finden glaubt. Es wäre gräßlich, wenn ich mir hier die Lösung dieses Räthsels holen müßte. Klementine’s Großmutter, des armen Mädchens einzige Stütze, ist unbemittelt, aber sie spielt gern die große Dame, und liebt Luxus und Bequemlichkeit – großer Gott, ich wage nicht, meine Gedanken weiter auszuspinnen! Es ist ja möglich, daß ich mich getäuscht habe.“

Die Arme verschlungen und die glühenden Blicke nach dem Hause gerichtet, stand er wohl eine halbe Stunde da, als plötzlich die Fenster sich wieder erhellten. Man hörte deutlich das Oeffnen und Schließen der Thüren in dem leicht von Holz gebauten Haus

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verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 417. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_417.jpg&oldid=- (Version vom 19.2.2017)