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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

Hannchen, ihre Zofe. Bei ihr machte sich denn die kleine Schwärmerin weidlich über den Tabacksfabrikanten lustig und wurde von dem dienstbaren Geiste in allen ausgesprochenen Ansichten und Meinungen gehörig bestärkt.

Der Tag verging, wie alle Tage vergehen; es vergingen auch Wochen, und vom Tabacksfabrikanten war im Hause nie mehr die Rede. Der Vormund besorgte seine Geschäfte, die Haushälterin das Haus, Klärchen die neuesten Romane, Hannchen die Stadtneuigkeiten; Alles wie sonst auch. So hoch die Romantik in den Büchern aufgeschichtet lag, in der Wirklichkeit dieses Lebens war auch nicht der leiseste Hauch davon zu verspüren. Da ging es vielmehr sehr nüchtern und sehr prosaisch zu, und das ärgerte und langweilte die kleine hübsche Romanleserin.

Dieses abscheuliche Einerlei wurde durch einen Ball der Resource-Gesellschaft unterbrochen. Klärchen fuhr in einem Stadtwagen dahin, reizend, duftend, graciös wie eine Sylphe. Noch hatte sie nicht alle Freundinnen begrüßt, als ihr ein junger, sehr schöner Mann auffiel, den sie noch nie gesehen halte. Er war hoch und stark, hatte eine breite Brust, einen kühnen, herrlichen Kopf, große, feurige Augen, eine majestätische Adlernase, einen prächtigen Bart und eine Haltung, keck und stolz wie ein König.

Seine Kleidung war sehr nobel, aber etwas phantastisch. Er wandelte in dem hell erleuchteten großen Saale auf und ab, als sei er allein hier Herr und Gebieter und alle Anderen seine Untergebenen oder wenigstens in Rang und Ansehen ihm weit Nachstehenden.

Klärchen fragte die nächste Freundin: wer dieser Herr sei, und erhielt zur Antwort: man habe sie eben um ihn befragen wollen. Keine von den jungen Damen wußte wer er war, und die bekannten und befreundeten jungen Herren und respectabeln Tänzer wurden herbeigezogen, um Auskunft zu geben. Keiner konnte etwas Genaues und Bestimmtes angeben, und das ganze Resultat der sorgfältigsten Nachforschung war, daß der Fremde seit einigen Tagen im Rheinischen Hof (das erste Hotel der Stadt) die vornehmsten Zimmer bewohne, viel Geld verzehre und ein strenges Incognito beobachte, daß er aber dem Ansehen und den Manieren nach ein Mann von Distinction sein müsse; man vermuthete sogar, daß er ein Prinz sei. Es konnte natürlich nicht anders kommen, als daß der schöne Fremde der Gegenstand der Neugierde und der lebhaftesten Unterhaltung des gesammten schönen Geschlechts im Ballsaale wurde und den ganzen Abend über verblieb. Um so schmeichelhafter war es für Klärchen, daß der interessante junge Mann sie zuerst zum Tanz engagirte und die Bitte so oft wiederholte, daß sein besonderes Interesse an ihrer Person ihr und Andern klar wurde. Sie bezeigte sich für diese Auszeichnung sehr dankbar, indem sie sich der Unterhaltung mit dem schönen Tänzer sehr lebhaft und fast feurig hingab. Aber die Gegenstände der Unterhaltung waren auch ganz dazu angethan, sie zu begeistern und zu entzücken. Eh’ sie sich’s nämlich recht versah, war sie mit ihm auf ihr Lieblingsthema, die moderne Novellistik, gekommen, und der geheimnißvolle Fremde sprach über Eugen Sue, Alexander Dumas, Charles Dickens und andere Heroen des heutigen poetischen Schriftthums mit einem so richtigen Urtheil und so genauer Kenntniß; er lobte ihren Geschmack in der Wahl ihrer Lectüre mit so zarten, sinnigen Worten, und seine Ansichten über die einzelnen Werke und Charaktere trafen so überraschend mit den ihrigen überein, daß Klärchen schon nach dem dritten Tanze ihr unbewachtes Herzchen ganz und gar an den unvergleichlichen Fremden verloren hatte, und ihre Nachbarinnen aus dem Enthusiasmus, womit sie von ihm sprach und seine Vorzüge schilderte, auf ihren Zustand den rechten Schluß machen mußten. Klärchen’s Rausch stieg; nach jedem Tanze mit dem theuern Fremden glühte sie höher, und als er sie an den Wagen begleitete und ihre Hand küssend ihr süße Ruhe wünschte und die Hoffnung aussprach, sie recht bald wieder begrüßen zu dürfen, war ihre Seele eigentlich schon sein Eigenthum, und sie kam in einer Aufregung nach Hause, welche nicht nur ihr, sondern auch dem guten Hannchen den Schlaf der ganzen Nacht raubte; denn die Zofe mußte in einem Feuerstrom von Beredtsamkeit, wie er noch niemals von der kleinen Herrin ausgegangen war, Alles erfahren: wie der herrliche Jüngling ausgesehen, was er für eine Nase, für Augen, Mund, Haare gehabt, wie stolz er sich gehalten, was er angehabt, wie gewählt und was er Alles gesprochen, wie viel er mit ihr und nur ihr getanzt, und alle die tausend Kleinigkeiten, die nur ein sterblich verliebtes Mädchen wahrnehmen und wiedergeben kann. Sie wiederholte sich wie oft und war ihrer Meinung nach noch nicht fertig, als der Morgen und mit ihm der Herr Vormund aus dem Bette kam und die lebhafte Relation für eine kurze Zeit unterbrach.

Hannchen wurde nun auf Kundschaft ausgeschickt und versicherte der Oberkellner im Rheinischen Hof sei ein alter Bekannter, das Stubenmädchen eine intime Freundin von ihr. Was sie nach einigen Stunden heimbrachte, überstieg alle Erwartung Klärchen’s. Der Fremde war in allem was er sprach und that, durchaus ein Halbgott; er las den ganzen Tag Romane und hatte bereits große Zufuhr aus den ersten Leihbibliotheken der Stadt erhalten. Und unvergleichlich nobel war er und freigebig wie ein Prinz. Wo Andere mit dem Groschen knausern, gab er den Thaler. Der ganze Rheinische Hof betete ihn an. Hannchen hatte auch schon die Bekanntschaft seines Jägers gemacht, eines „charmanten Menschen,“ und von ihm erfahren, daß der Herr seit er vom Ball heimgekehrt nur von einer Göttin rede, die er kennen gelernt und mit der er nur getanzt habe. Sie sehen und sie lieben sei Eins gewesen. Wer aber der „Herr Müller“ eigentlich sei (denn so einfach ließ sich der interessante Fremde nennen), das hatte Hannchen doch nicht erfahren können. Sie gab aber die Hoffnung durchaus nicht auf. Und wirklich wurde sie nicht von dieser Hoffnung betrogen. Am dritten Abend trat die geschäftige Iris mit leuchtenden Augen zu der in süßer Erwartung harrenden Klara und flüsterte: „Ach, Fräulein! Was hab’ ich erfahren! O du meine Güte! Der Schreck ist mir in alle Glieder gefahren. Adolf, der Jäger, hat es mir endlich unterm Siegel der größten Verschwiegenheit gestanden. Ich hab’s ihm schwören müssen bei unserer Liebe, keiner Seele ein Wörtchen davon zu verrathen.“

„Um Gottes Willen? Was denn? Was ist’s? Bring’ mich nicht um’s Leben, grausames Mädchen!“

„Ich weiß jetzt wer dieser Herr Müller ist, den Sie so sehr lieben, und der Sie wieder zum Sterben liebt. Adolf konnte meinen Bitten nicht länger widerstehen. Er hat mir das Geheimniß verrathen. O mich schaudert’s!“

„So sag’s doch nur! Du siehst ja, daß ich sterbe. Was ist er? Was ist er?“

„Ein Seeräuber!“

„Ein Seeräuber!“ jauchzte Klärchen und schnellte empor wie von der Hand eines Gottes berührt. „Ein Seeräuber!“ jubelte sie und umarmte Hannchen. „Das ist ja göttlich! Weit, weit über meiner Erwartung. Ich hielt ihn für einen Prinzen. Aber was ist ein Prinz gegen einen Seeräuber! Es giebt nichts Herrlicheres auf der Welt, als einen Seeräuber. Die ganze Männerwelt muß vor ihm erblassen. O Schicksal, du bist groß und gerecht! Ich erkenne, daß ich dein Liebling bin. Mein Vormund bestimmte mir einen Tabacksfabrikanten und ich habe einen Seeräuber erobert!“

„Aber ein Seeräuber wird ja gehangen oder geköpft. Er ist doch ein großer Uebelthäter.“

„O wie dumm Du bist! Ein Seeräuber ist ein großer Held, der kühnste aller Sterblichen und seine Thaten, sein Leben sind Alles eitel Poesie.“

„Ach! und seine eigentliche Kleidung soll ganz erschrecklich aussehen. Eine rothe Binde um den Leib und Pistolen und Dolch darin. Auch einen langen Säbel trägt er und eine kurze Flinte und eine Feder auf dem Hut.“

„Himmlisch! Wie muß er erst so ausstaffirt sich ausnehmen der unvergleichliche Mann!“

„Ueber all’ dem Graus hab’ ich ganz vergessen, Ihnen zu sagen, daß er Sie um eine geheime Zusammenkunft bitten läßt. Ach Gott! wenn er Ihnen nur kein Leid anthut, Fräulein! Solch ein entsetzlicher Mensch!“

„Schweig doch, Thörin! Hast Du selbst mit ihm gesprochen?“

„Freilich! Und er hat mir einen blanken Louisd’or geschenkt. Aber das ist ja Blutgeld, gestohlenes Geld!“

„Zeig’ her! Ich wechsle Dir das Goldstück aus; ich trag’ es auf meiner Brust als einen heiligen Talisman der Liebe.“

„Er hat mir diesen Brief an Sie gegeben.“

„Und den giebst Du mir jetzt erst, Abscheuliche!“ Sie riß das Siegel auf und las:

„Angebetete Göttin!

„Nur eine Stunde schenken Sie mir unter vier Augen. Ich könnte sie mit meinem Leben erkaufen. Nie liebte ein Herz

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