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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

uns den richtigen Maßstab für Raumformen und Kunstwerke, die namentlich bei den Griechen mit feinster Rücksicht auf den Raum und die Umgebung, für die sie bestimmt waren, gestaltet und abgegrenzt wurden.

Hier im Krystall-Palaste fallen die Kunstwerke aller Zeiten und Größen unter den einzigen, beispiellos großen Maßstab, so daß wenigstens viel Abstractionskraft dazu gehört, jedes einzelne gleichsam nur durch sich selbst zu messen. Doch man soll mich hier nicht „gelehrt“ finden und ich fahre deshalb mit meiner in Rauch aufgehenden Revolution fort. Wir rauchten also alle drei kühn die Terrassen herauf, vor schönen und häßlichen Menschengruppen auf dem Rasen und auf Stühlen und zwischen Bäumen, vor Nymphen und Göttern der Fontainen vorbei, als wären wir wie gute Menschen in ihrem dunkeln Drange uns des rechten Weges wohl bewußt, angestaunt von schönen und nicht schönen Augen und durch Lorgnetten verfolgt, weil Jeder den Moment, wenn uns der strafende Arm der Gerechtigkeit träfe, persönlich beobachten zu wollen schien. Selbst auf der obersten Terrasse lebten wir noch und wagten es noch zu leben und dazu zu rauchen. Wir betrachteten uns mit dem Blick der berühmten charlottenburger Kritik die großen Originalstatuen von Monti und Danton, die Türkei schwermüthig am Barte hinunterblickend, neben Griechenland, das seeräuberisch kühn in die Ferne späht, die halb nackte Australia mit der Springratte neben sich und einer Ente (keiner Zeitungsente) auf dem Kopfe, die wild und kräftig mit hochgeschwungenem Goldklumpen in die Welt hinaus jauchzende California, den langen Speer und den Pfeil in der Linken; wandten uns dann durch das dichte Publikum vor der Haupttreppe, um auf der andern Seite der obersten Terrassenballustrade die Italia, die weinumrankte Hispania, die Personifikationen von Lyon, Mühlhausen, Glasgow, Manchester, Belfast, Sheffield, Birmingham, dem Zollvereine und Holland zu betrachten, ohne die Cigarre dabei ausgehen zu lassen und ohne in Anfechtung zu fallen. Auf dem Rückwege zur Wange der Haupttreppe mit der kolossalen Sphinx wurden wir von einem stolzen Spanier aufgehalten, der den Arm seiner braunen, glühäugigen Dame verlassend, uns um etwas Feuer bat. Kaum hatten dies ein Paar Franzosen gesehen, baten sie uns mit jener eigenthümlichen, lebhaften Grazie, durch welche man den Franzosen aus hunderttausend Engländern heraus deutlich unterscheidet, um dieselbe Gefälligkeit. „Der Aufruhr wächst in meinen Niederlanden?“ Die Flamme der Empörung griff nun rasch um sich. Bald steckte sich ein Engländer mit meiner Cigarre sogar seine nationale kurze Thonpfeife an. Hiermit schien der Geist der Widersetzlichkeit seine erste siegreiche Invasion in’s englische Geblüt gemacht zu haben. Ueberall in Näh’ und Ferne stiegen aus den malerisch zerstreuten Gruppen leichte Rauchwölkchen in die klare, frische, vom atlantischen Oceane herüberathmende Luft, Weihrauch für den Sieg unserer gerechten Sache.

Freilich dürfen wir aufgeklärten Leute vom Continente noch nicht die Hände in den Schooß legen. Noch bleibt uns die Mission, den Engländern beiderlei Geschlechts zu zeigen, wie man mit Anstand und Gemüth im Freien sitzen muß, in Gartenlauben um Tische herum raucht, strickt, häkelt, Kaffee trinkt und Kuchen einstippt und dazu wirklich spricht und heiter herauslacht. Davon hat man hier noch keine Ahnung. Essen und Trinken ist ihnen eine ernste Arbeit bei verschlossenen Thüren. O sie haben weder ein Wort noch eine Sache für unser deutsches „Gemüth.“ Es ist entsetzlich, wie die Damen immer sehr ungeschickt auf den Stühlen sitzen und den Sonnenschirm halten. Von zwei bis sieben Uhr nichts thun, als da sitzen und den Sonnenschirm halten, wobei die Herren ganz gehaltlos erscheinen – diese 20,000 Stühle all überall umher ohne Spur von Tisch und einem Töpfchen Bier – das ist ein unerträglicher socialer Zustand für Männer, die neuen Hering mit frischen Kartoffeln jemals im Freien genossen haben. Aber der blauduftige Krystall-Palast und die brennende Cigarre sind auch hier das Morgenroth einer schönern Zukunft für die anglo-sächsische Race, der wir vom Osten her Civilisation und Gemüthlichkeit beibringen wollen, während es ihr so schwer fällt, im Kampfe „westlicher Civilisation mit östlicher Barbarei“ eine respectable Rolle zu spielen, so daß „während die Völker hinten in der Türkei auf einander schlagen,“ nur immer noch als Philister zu Hause sitzen und uns verzweiflungsvoll zum 199sten Male fragen, was nun eigentlich aus der Geschichte werden soll. Viel Ideale sind zerronnen, viel Glaube ist erloschen, aber der Glaube an eine große, culturhistorische Weltmission der Deutschen, den ich bescheiden hier in der Cigarre glimmen sah, während wir, auf den grünen Terrassenteppich neben der Treppenwange hingelagert, ihn triumphirend aus den achtzig Blasinstrumenten der deutschen Schallehn’schen blau uniformirten, goldrandmützigen Musikgesellschaft mit Mozart’schen, Beethoven’schen, Weber’schen u. s. w. Schöpfungen gewaltig und meisterhaft ringsum weit über Tausende hin verklingen hörten, wobei ich noch in der Zeitung las, daß man sich in der Türkei hauptsächlich nur vermittelst der deutschen Sprache zwischen Türken, Engländern, Franzosen u. s. w. verständlich machen könne und in Amerika die „Know-nothings“ (Nichtswisser d. h. die gegen den deutschen Einfluß vereinigten, nationalen Yankees) sich vergebens bemühten, den Stolz ihres Nichtwissens und Geldhabens gegen „deutsche Vernunft und Wissenschaft, des Menschen allerhöchste Kraft,“ geltend zu machen, – dieser Glaube ist eine bereits in unzähligen Firmen durch die ganze Welt etablirte und geschäftige Thatsache. Im stolzen Bewußtsein hier eben als Missionär derselben einen Sieg erfochten zu haben, schlief ich neben Freund M. ebenfalls ein, wie auf Lorbeeren ruhend. Weit aus der blühenden Ferne eilte der erquickende Wind über uns hin, während Canova’sche Statuen von der Hauptfontaine her in den schläfrigen Blick hereinglänzten und klassische, heimische Melodien die horchenden Tausende weit umher fesselte, so daß man bei Pianostellen die Fahnen oben auf dem Krystall-Palaste im Winde flappen und klappen hören konnte. Das wäre einer der Augenblicke gewesen, zu dem ich gesagt haben würde: „Verweile doch, du bist so schön!“ wenn M. nicht zu stark geschnarcht und der Berliner vom Molkenmarkte nicht auch im Schlafe zuweilen versucht hätte, einen Witz zu machen. – Die große Glocke innen ruft: „sieben Uhr und Schluß.“ Alles stürzt sich herunter nach der Eisenbahn und kämpft bis neun Uhr um Plätze in einer Weise, deren wilde Erhabenheit kein Pinsel malen und kein Dichter würdig besingen kann.[1]

B. 

  1. Wir haben diesen Brief ohne Abänderung und Fragezeichen abdrucken lassen, weil wir das liebenswürdige Capriccio unsers alten Freundes und Mitarbeiters nicht zerstören wollten. Aber wir bitten doch freundlichst, die späteren Artikel über den Krystall-Palast etwas weniger flanirend und spielend zu bearbeiten. Das Hummersalat-Dejeuné und die großartigen Civilisations-Wirkungen einer glimmenden Cigarre sind selbst für den gemüthlichen Gartenlaubenleser zu – gemüthlich.
    Die Redaction. 
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 388. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_388.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)