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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

verschiedenen Abtheilungen der französischen Chokoladen-Compagnie u. s. w. vorbei, bis uns abenteuerliche Landschaftsbilder, von verschiedenen Thier- und Menschenracengruppen bevölkert, hoch überragt von einer Giraffe, und hoch, hoch und in’s Weite, Weite ätherische Melodien von Glas und Eisen und hängenden Gärten und winkenden Statuen und Palmen verkündigen, daß wir in das eigentliche Hauptschiff eingetreten sind. Doch übersehen wir nicht das Nächste, Erste und Wichtigste für einen englischen Kultur-Tempel, die sich an riesigen, langen Marmortafeln zwischen der Giraffe und der englischen Regenten-Halle von Westminster ausdehnende Haupt-Erfrischungs-Anstalt, an welcher am Eröffnungstage für 10,000 Thaler Speisen und Getränke die Feierlichkeit dieses Tages vom Gaumen und Magen aus rühmlich erhöhen halfen. Seitdem ist im Durchschnitt jeden Tag für 6–7000 Thaler Roastbeef, Hummersalat, Pastete, Rheinwein-Gelee, Sherry, Burgunder, Bier und Eis gebraucht worden, um den geistigen Genüssen der Gäste ein materielles, englisch-solides Gegengewicht zu geben. Groß ist der Ruhm der ästhetischen Fülle und Pracht des Krystall-Palastes, aber in seiner Weise das Vollendetste ist die Kunst der Direktoren, für zwei Schillinge à Person Jedem so viel Geflügel, so viel Hummersalat, so viel Pastete, so viel Fisch und Fleisch u. s. w. und so gut verabreichen zu lassen, als man gar nicht wagt, es zu erwarten, so daß der Profit hier nur darin liegen kann, daß die meisten Gäste in ihrem Anstandsgefühl – und dies ist in England in dieser Beziehung bis tief herab ziemlich ausgebildet – von ihrem Rechte, des Guten und Besten so lange zu genießen, als sie irgend Platz dafür im Magen finden, nur den beschränktesten Gebrauch machen. Was uns Deutsche betrifft, so denken und handeln wir in jeder Beziehung selbstständiger und freier, als der Engländer. Der Hummersalat allein, den Jeder von uns gebildeten Berlinern verzehrte, war unter Brüdern seine 1 Thaler 20 Neugroschen oder 5 Schillinge werth. Es war nicht unsere Schuld. Warum war er so geschmeidig und verführerisch in seiner italienischen Eiersauçe zubereitet worden? Und warum meinte es der brave, blühende Deutsche aus dem Lande Mecklenburg, der hier als manager der großen, klassischen Erquickungsmarmortafeln eine dankbarere Anstellung fand, als einst in Baden – so gut mit uns, daß er uns, gerührt durch das Band gemeinsamer Leiden von ehemals, eines gemeinsamen Vater- und Mutterlandes und einer gemeinsamen Sprache, mit guter, alter, mecklenburgischer Treuherzigkeit die feinsten Delikatessen so derb vorlegte, als wären wir homerische Helden nach einer Schlacht mit den Trojanern oder wenigstens Scheffeldrescher. Unserm Werthe nach für das praktische Leben gelten wir zwar nicht so viel, als der letzteren einer, aber wir aßen mindestens so viel. Und letzteres Bewußtsein hat auch sein Gutes.

Man sagt wohl mit dem Franzosen: „Mit dem Essen kommt der Appetit“; ich habe aber immer gefunden, daß er durch Nichtessen noch mehr kommt. Wir hatten nämlich bereits „die große Tour“ durch den Krystall-Palast gemacht, ehe wir zu dem angedeuteten Epikuräismus herabsanken. Solch’ eine „große Tour“ ist aber eine Fußreise um die Welt im Kleinen. Ist doch sogar die eine große Galerie eine ganze englische Meile lang. Die zwei darüber und eine dritte kleinere mußten auch bereist werden wegen der wundervollen weiten Aussichten über das reiche, wellige, waldige, grüne, von Farms und Palästen und Schlössern und Dörfern und Städten dicht besternte Land, diese gefrorne und übergrünte und überkultivirte Musik der Meereswogen. – Das Parterre mit seinen Kunst- und Industrie-Hallen, seinen Tausenden von Statuen und Portrait-Büsten aller großen Männer aller Zeiten und Zonen, seinen kleinen Industrietempeln (als Läden gebraucht), seinen Pflanzen und Blumen, seinen Kolossen und Heroen zu Fuß und zu Pferde aus der realen und idealen Welt, seinen arbeitenden Maschinen am Haupteingange u. s. w. mußte dreimal in der gewaltigsten, geistigen Anstrengung und tropischen Hitze durchwandert werden. Auch der Paxton-Tunnel, die noch im Werden begriffene Stätte für große, arbeitende Maschinen und die warme Blut-Cirkulation für die Pflanzen und die Heizung im Winter bedurfte einer Inspection. So hatten wir etwa gute acht englische Meilen im Innern des Palastes zurückgelegt, als wir uns todtmüde und an Leib und Seele verschmachtet den kühlen, erquickenden Marmortischen, deren Kasse unser Mecklenburger menagirt und deren dienstbare Geister er regirt, am Eingange näherten. Man wird nun begreifen, warum ich diesem wunderbaren Kolosse von unerschöpflicher Speise-Anstalt den ersten und wohl gar den Hauptplatz einräume. Ich thue dies zunächst aus Dankbarkeit im Allgemeinen, zweitens als Engländer, der einen guten Tisch weit über alle Herrlichkeiten der Erde stellt, und drittens weil man mit der Zeit alt wird (meine Frau hat mir neulich ein reell graues Haar aus dem Barte gezogen) und somit den Geschmack an idealer Pegasus-Ritterlichkeit verliert, um als gebildeter Philister den Dingen, wie sie sind und schmecken, mehr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Endlich wäre diese Auffassungsweise auch im Sinne unserer materialistischen Zeit. Ging doch neulich ein ehemaliger tapferer Hanauer so weit, die Leute vor der idealistischen und enthusiastischen Beurtheilung des Krystall-Palastes zu warnen, da er nichts sei als „Humboldt’s Kosmos, übersetzt in ein Universal-Kaffeehaus“.

Nach dem Essen raucht der gebildete Deutsche eine Cigarre mit möglichst gutem Kaffee. Jetzt begann eine lange Leidensgeschichte für uns. Das Departement des Kaffee’s lag in einem ganz fernen Welttheile des Krystall-Palastes, gleichsam unter den Antipoden. Von Sherry und Eiswasser erquickt, traten wir unsere Reise an, entdeckten endlich das Land der Bohne und fanden, daß der Kaffee selbst hier schlecht war, wie in ganz England. Und wie schlecht wurde er erst, als wir die Schreckenskunde vernahmen, daß nicht nur überall in der großen, weiten Welt des kosmopolitischen Kunsttempels oder Kosmos-Kaffeehauses das Rauchen verboten sei, sondern auch in dessen zweimeiligem Umkreise, d. h. wenigstens auf den Terrassen draußen. Octavio neben mir blickte schmerzvoll gen Himmel, und ich fühlte eine Armee in meiner Faust, welche die schon abgebissene Cigarre so krampfhaft hielt, daß sie knickte und Seitenlust bekam. Dies vermehrte nur meine Bosheit! Ein Sohn Germania’s und nach Tische nicht rauchen! Das Rauchen im Freien verboten, im freien, großen England mit der baltischen Flotte! Alle subversiven Tendenzen meiner thörichten Jugend wachten in mir auf und ich beschloß endlich, etwas für die Unsterblichkeit zu thun. „Hier vollend’ ich’s, die Gelegenheit ist günstig, dort der Hollunderstrauch verbirgt.“ – Also heimlich rauchen? Nein, die Sonne oben und die 40,000 Menschen auf den Terrassen draußen und auf den Außengalerien oben und die Statue des „Zollvereins“ (zärtliche Mutter mit zwei allerliebsten Kindern, den „kleinen Bambergern,“ wie mein Leidensgefährte sagte) seien Zeuge meiner ersten Heldenthat. Aber wo die Cigarre anstecken, und den Brand der Empörung in Zug bringen? Wir hatten weder Schwamm noch Schwefelhölzer und von allen Völkern, allen Namen, die gastlich hier zusammen kamen, kein Einziger mit einer brennenden Cigarre. Ich bitte hier um stilles Beileid, bis ich durch des Opernguckers weithintragendes Rohr in der Ferne unten ein Rauchwölkchen aufsteigen sah. Das war die Wolke, die den herannahenden Sturm verkündete. Wir schossen hinunter über den herrlichen grünen Rasen weg (der alle Tage tausendfältig betreten und belagert, doch immer grün bleibt, wie aller englischer Rasen) und verfolgten den Raucher unten, als hätt’ er uns das beste seidene Taschentuch gestohlen. Athemlos fiel ich ihn an: „Will you be so obliging, Sir“ – „Sehr jerne. Bedienen Se sich meiner Lunte un schießen Se los!“ Also ein Berliner, vielleicht vom Molkenmarkt. Begeistert schlossen wir uns an dieses Stückchen deutsches Vaterland an. Wir wurden bald Freunde, die den dazu nöthigen Scheffel Salz zusammen gegessen, indem wir durch das attische Salz von Spree-Athen das gemeine Kochsalz zu ersetzen suchten. Wenn ich in gerechtes Pathos ausbrechen wollte über die in ganzer Breite vor uns aufblühende Hauptfaçade des ätherischen Kolosses, streuten diese schnöden geborenen Berliner, denen nichts heilig ist, jedem Vogel des Aufschwungs Salz auf den Schwanz. „Herr Jotte doch ja,“ sagte der Berliner, „das is Allens janz richtig, deß das jroßartig is. Un wenn mir des berliner Museum jehören thäte un desselbige hier stehen thäte, würde ich ’n Nachtwächter bei Dage dabei fixiren, deß et mir hier Keener instechen thäte. Un ’n Jensd’armenthurm von Berlin hier wäre so kleene, deß ich mit Spaß darüber weg springen könnte, so jrausam jroßartig fühl’ ick mir hier in diese reendlliche Jegend.“

Der „gemüthliche“ Leser verzeihe mir und ihm. Jeder Mensch ist nicht nur Sohn einer Mutter (Töchter natürlich ausgenommen), sondern auch einer Gegend. Dazu hat der Berliner, wenn man ihn nur in anständiges Deutsch übersetzt, vollkommen Recht. Die Großartigkeit spürt man nämlich mit furchtbarer Gewalt: sie raubt

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verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 387. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_387.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)