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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

bei den Osseten vor, ihr Leben ist im Ganzen sittlich, und ein Aeltester, der in jedem Dorf gewählt wird, genügt, um die Ordnung aufrecht zu erhalten.

Sie haben unter sich Edle, Freie und Sclaven. Die Zahl der Adelsfamilien ist gering und die Sclaven stehen in keinem andern Verhältniß, als dem der Knechte. Sie werden in jedem Hauswesen als zu diesem und der Familie gehörend betrachtet und gut behandelt. Die Osseten sind die einzigen Leute in Cirkassien, die sich vermiethen. Die übrigen Cirkassier sind dazu zu stolz. Die Osseten beweisen dadurch aber gerade, daß sie ungleich arbeitsamer sind, als die Cirkassier. Ihre Dörfer sind in ungleich besserem Stande, als die der Georgier. Die reicheren Osseten lassen ihre Aecker theils durch freie Bauern, theils durch Knechte bewirthschaften; dies ist ein ungleich höheres Kulturverhältniß, als das Georgiens, wo selbst die Adelsfamilien in sehr ärmlichen Verhältnissen leben, weil sie nicht zu wirthschaften verstehen und selbst zu arbeiten verschmähen. Auch die Osseten halten sehr auf Reinheit des Blutes. Die einzelnen Klassen heirathen unter einander. Sie nehmen nur eine Frau, und nur selten kommt es vor, daß ein Reicher eine zweite in sein Haus führt. Jedes Mädchen wird um seine Einwilligung befragt, wenn um sie geworben wird. Giebt sie ihre Zustimmung und ist der Tag der Hochzeit festgesetzt, so erscheint an diesem der Bräutigam mit seinen Freunden und Verwandten und es beginnt das Fest bei den Aeltern der Braut. Am folgenden Tage geht die Gesellschaft zu dem nächsten Nachbar und so geht es fort, bis das ganze Dorf an der Reihe gewesen ist. Vorher darf der Bräutigam die Braut nicht in sein Haus nehmen. Endlich bringen die Verwandten sie dahin, der Bräutigam empfängt sie an der Thür mit einem brennenden Licht und leuchtet ihr in’s Haus, dann geht sie dreimal um den Herd umher und setzt sich in den Stuhl vor dem Feuer; darauf erscheinen die Frauen aus dem Dorfe, setzen sich um sie herum und singen ihr etwas vor, bis der erste Hahnenruf erschallt. Sobald dieser gehört wird, kommt ein Junge gelaufen, der darauf zu passen hatte, nimmt der Braut den Schleier vom Gesicht, zerreißt ihn, heftet die Stücke auf einen Stab und ruft: „Neun Knaben und ein Mädchen.“ Damit ist sie die Herrin des Hauses, d. h. es beginnt ihr Dienst in demselben. Die Gesellschaft setzt sich abermals zum Schmausen nieder und sie hat dabei aufzuwarten. In ihrer Gegenwart darf sie nicht essen. Ihr wahres Ansehn beginnt überhaupt erst, wenn sie ein Kind zur Welt gebracht hat.

Die Frauen herrschen im Hause und sind ungemein fleißig und arbeitsam. Sie besorgen nicht nur die Wirthschaft, sondern besorgen auch das Schneiden und Einbringen des Korns, ja häufig pflügen sie auch. – Stirbt der Mann vor der Frau, so bleibt diese in der Familie, und es heirathet sie entweder ein anderes Mitglied derselben oder sie lebt für sich fort. Alle Kinder, die während dieser Zeit geboren werden, haben gleiche Rechte mit denen aus der ersten Ehe. Ist aus dieser kein Knabe vorhanden, so erbt der später Geborene den Hof. – Haxthausen war selbst in einem Hause einquartirt, in dem die Wirthin, eine junge Wittwe, einen solchen Erben auf dem Arme trug.

Die Osseten sind bei weitem nicht so hübsch, wie die übrigen Cirkassier. Sie sind kurz und gedrungen, selten über 5’ 4″ groß, haben blaue Augen und lichtbraune oder rothe Haare, und sehen ganz so aus, wie niedersächsische Bauern. Die Frauen haben etwas zu flache Nasen, um für hübsch gelten zu können.

Die Osseten sind auch die einzigen Cirkassier, die ordentlich zu singen verstehen. Sie lassen einen Sänger die Melodie und den andern die Worte singen und ihr Gesang ist gut und kräftig. Die übrigen Cirkassier bringen dagegen nur ganz dünne zum Vorschein, die der Violinstimme gleichen.

Das Criminalrecht der Osseten gleicht vollkommen dem der alten Germanen. Ist ein Mord vorgefallen, so tritt die Blutrache ein, die zwei Geschlechter hindurch währt. Für jede Verletzung steht ein Tarif der Entschädigung fest, der nach Kühen berechnet ist.

Die Osseten haben stets ihre Unabhängigkeit zu bewahren gewußt. Die Könige von Georgien haben einmal einen Theil von ihnen unterworfen, aber diese Abhängigkeit ging auch nicht weiter, als daß sie ihnen einen Tribut bezahlten. Die Russen haben keinen Einfluß auf sie zu üben vermocht.

Nach all’ diesen Notizen über die Osseten, die man zum Theil auch in Kohl’s Reisen durch Rußland bestätigt findet, muß man höchst gespannt darauf sein, ob es nicht gelingen könnte, diese wunderlichen Reste des alten Deutschthums mit unserer jetzigen deutschen Kultur in Verbindung zu bringen. Sollten sie nicht dazu dienen können, die weitere Kolonisation Cirkassiens durch deutsche Elemente zu bewerkstelligen?

Auch die Russen haben bereits die Wichtigkeit der deutschen Kolonisation erkannt. Sie haben Schwaben nach Georgien wie nach den Ufern der Wolga gezogen, und beide Kolonien gedeihen vortrefflich. Die in Georgien, welche seit 1818 in der Nähe von Tiflis bestehen, versehen die ganze Gartenarbeit für dieses, da die Georgier zu faul dazu sind, und gewinnen viel Geld damit. Die Mährischen Brüder, welche Katharina II. 1769 nach den Ufern der Wolga unterhalb Samtova verpflanzte, haben jetzt 100 Dörfer mit je 1000 Einwohnern inne und liefern die beste Handwerkerarbeit in ganz Rußland, so daß die Regierung ihren Arbeitern das Recht ertheilt hat, gleich den Kaufleuten erster Gilde durch ganz Rußland zu handeln. Sie wie ihre Brüder in Georgien werden auch in ihren Gemeindeverhältnissen ungestört gelassen. Sie verwalten alle ihre Angelegenheiten selbst und bedürfen keiner Staatsregierung!

Liegt nicht in diesen Vorposten der deutschen Kultur schon eine große geschichtliche Bedeutung? Beweist das Gelingen dieser Kolonisation nicht, daß die Deutschen mit ihrem Fleiß und ihrem tiefen Sinn für freies Familien- und Gemeindeleben vorzugsweise dazu gemacht sind, die Kultur über die Erde zu tragen?

Wie trefflich wäre es daher, wenn auch die Osseten dafür gewonnen werden könnten, wenn in ihnen das Bewußtsein erweckt würde, daß sie zu dem großen deutschen Stamme gehören, der jetzt erst, nachdem das angelsächsische England ihm vorgearbeitet hat, dazu gelangt, seinen wahren Kulturberuf zu erfüllen.

Die Deutschen haben bisher die Kolonisation noch nicht als Volkssache, als allgemeine Angelegenheit betrieben, und doch haben die Einzelnkräfte, die sich ihr zugewandt haben, schon dahin geführt, daß der deutsche Fleiß und der deutsche Geist dem englischen auf dem Boden Nordamerika’s ebenmäßig zur Seite getreten ist. Das Gleiche wird auch in Australien geschehen und es ist offenbar ebenso unsere Aufgabe, über Cirkassien nach Central-Asien vorzudringen, um dort den Engländern in Indien zu begegnen und an der Kultur dieses herrlichen Landes mitzuarbeiten.

Auch Indien ist ein uns stammverwandtes Land und die deutsche Civilisation muß nothwendig dahin zurückstreben.

Die Kultur muß zur zirkulirenden Kraft der Menschenwelt werden, wie der Blutumlauf in dem einzelnen Individuum, dann hat die Menschheit erst ihre Aufgabe erreicht, und erst dann kann die Freiheit der Völker eine Wahrheit werden.

Erst wenn sie vollkommen Raum zu ihrer Entwicklung haben, wenn sie sich nicht mehr eingeengt und beschränkt fühlen, wird sich auch ihre Kraft entfalten.

Deshalb ist es an der Zeit, daß die gesammte Presse für diese Völker aus Gründen der geschichtlichen Nothwendigkeit und der national-ökonomischen Wohlfahrt Europa’s ihre Stimme erhebt und dazu beiträgt, ihnen eine Zukunft zu bahnen. Daß ihnen bei ihrer großen Kulturfähigkeit eine große und weitgreifende Zukunft erwächst – wer will es bei ihrer Stammverwandtschaft mit deutschem Charakter und deutschem Streben läugnen?

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verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 376. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_376.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)