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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

Die Osseten.
Deutschland im Kaukasus.

Von all’ den Völkerinteressen, welche sich an den gegenwärtig im Osten geführten Kampf knüpfen, ist keins so wichtig und bedeutend für die Zukunft, als das, welches die Völker des Kaukasus betrifft. Ob Cirkassien von der russischen Herrschaft frei oder nicht, ist eine Frage, die mindestens so wichtig ist, wie die Rettung der gesammten Türkei.

Wie sich auch deren Schicksal durch die Hülfe Englands und Frankreichs gestalten mag, sie bleibt immer eine untergehende und dem Untergange gewidmete Welt und kann erst dann für uns wahrhaftes Interesse erwecken, wenn sich aus diesem Untergange ein neues Leben erzeugt, das fähig ist, die europäische Civilisation in sich aufzunehmen.

Anders verhält sich dies mit Cirkassien. Dort hausen Völker, die in voller Jugendkraft leben und nur des Augenblickes ihrer Selbstständigkeit harren, um ein frisches, geschichtliches Leben zu beginnen, und sie sind es zugleich, welche die Brücke für die Vorbereitung der Kultur nach Central-Asien bilden und von denen daher auch dessen Wiedergeburt und Civilisirung wesentlich abhängt.

Seit achtzehn Jahren fechten die Bergvölker des Kaukasus gegen die alljährlich gegen sie ausgesandte Militairmacht Rußlands mit derselben Tapferkeit und Hingebung, mit der sich einst unsere germanischen Vorältern der Eroberungslust der Römer gegenüberstellten, und alle Schilderungen, welche die neueren Reisenden über sie entworfen haben, sagen uns, daß auch in ihren Sitten, ihrem Denken und Fühlen eine tiefe Verwandtschaft zwischen ihnen und den alten Germanen stattfindet.

Die Religion, welche Schamyl für seinen Stamm aus dem Islam hervorgebildet hat, geht weit über alle übrigen Religionsrichtungen der Muhamedaner hinaus und zeugt von der tiefsten Anlage zu natürlicher Philosophie und einem Gemüthsleben, das an Fülle und Reichthum den Deutschen nahekommt.

In Georgien, das eins der ältesten Königreiche war, denn es ist im Stande seine Tradition bis in’s zweite Jahrtausend zu verfolgen, sehen wir noch jetzt eine feudale Organisation, die vollkommen der des mittelalterlichen Deutschlands gleicht. Wir sehen dort Fürsten, Grafen und deren Vasallen, die den Adel bilden, eine Geistlichkeit, die sich diesem in gleicher Abstufung anschließt und eine Einreihung der Handwerker und Künstler in Gilden.

Muß dies Alles nicht die tiefste Sympathie bei uns Deutschen erwecken und den Wunsch rege machen, daß es uns endlich gelingen möge, unsererseits mit diesen uns so verwandten Völkern in Verkehr treten zu können?

Es giebt aber eine noch eigenthümlichere Erscheinung in Cirkassien, welche dieses Verlangen noch heftiger steigern muß. Es giebt eine Völkerschaft in Cirkassien, die dem deutschen Wesen nicht nur verwandt, sondern ganz unzweifelhaft ein Ueberbleibfel der deutschen Stämme ist, die sich einst zur Zeit der Völkerwanderung vom Kaukasus aus in die Ebenen Europa’s ergossen. Es giebt noch Alanen in Cirkassien, die sich selbst Iren oder Eisenmänner und ihr Land Ironistan nennen, von den Tataren aber Oss, von den Lesghiern Otz und von den Georgiern Ossi genannt werden. Ihre eigene Tradition sagt, sie hätten früher die Bergthäler Cirkassiens bewohnt und seien aus dem Norden gekommen. Die Nachrichten der Georgier besagen jedoch, daß sie früher am Ufer des Don gewohnt und von dort gekommen wären. Dies ist allerdings wahrscheinlicher, da Ptolemäus eines solchen Stammes als dort wohnend erwähnt, der zu den Alanen gehörte.

Sprechender aber noch als alle diese Traditionen ist die ganze Erscheinung dieses wunderbaren Volksstammes, den man eine lebendige Versteinerung der Geschichte nennen könnte.

Ein neuerer Reisender, H. von Haxthausen, der so eben seine Reise durch Transkaukasien in englischer Sprache hat erscheinen lassen, entwirft über die Osseten eine Schilderung, die so merkwürdig ist, daß wir uns nicht enthalten können, sie ihrem Hauptinhalte nach unsern Lesern mitzutheilen.

Die Osseten wohnen eine Tagereise weit von Tiflis, der Hauptstadt Georgiens und nehmen ein nicht unbedeutendes Gebiet ein, das sie mit ihren Dörfern besetzt haben. Als H. v. Haxthausen diese betrat, wurde er augenblicklich von dem tiefsten Erstaunen ergriffen. Nicht nur die Gestalten der Menschen erinnerten ihn lebhaft an die Bauern in Niedersachsen, auch ihre Häuser und Geräthe sahen ganz so aus, als befände er sich dort oder in Westphalen. Und dabei war Alles anders als in dem übrigen Cirkassien.

Die Georgier wohnen in schlechten Erdhütten, die sie an einen Hügel anlehnen oder vielmehr aus diesem aushöhlen. Die Osseten haben tüchtige, gut gemauerte und geräumige Häuser, in deren Mitte sich ein runder mehrere Stockwerke hoher Thurm erhebt, in dem ein Wächter sitzt und das Nahen jedes Fremden beobachtet und anmeldet. Außerdem laufen um die Häuser, die ein Dorf ausmachen, Befestigungen; zuweilen liegen die Häuser aber auch einzeln oder in geringer Vereinigung zusammen. In den Häusern sah Haxthausen, was er nirgend in ganz Transkaukasien gewahrt hatte, eine Scheuer zum Dreschen. Ueberall hatte er sonst das Korn im Freien durch Ochsen dreschen sehen. – Die Osseten haben ferner Pflüge, die ganz den mecklenburgischen gleichen. Auch ihre Wagen und sonstigen Ackergeräthe sehen ganz deutsch aus. Als er in die Häuser trat, sah er zwischen zwei hohen Steinen an eisernem Haken den Kessel hängen, unter dem alsbald ein großes Feuer gemacht wurde, um das sich die Familie versammelte. Vor dem Feuer stand ein hölzerner Armstuhl, der für das Haupt der Familie bestimmt war, und an den Wänden befanden sich Bänke, die an das Feuer gerückt wurden für die übrigen Mitglieder der Familie. Die Osseten setzen sich nie, wie die übrigen Cirkassier mit gekreuzten Beinen auf den Boden, sondern auf Stühle und Bänke wie wir.

Sie haben ferner Bettstellen und Wiegen, die man in Cirkassien nirgend kennt. Sie machen Butter in Butterfässern, während die Cirkassier nur den Rahm der Sahne kennen und dieser bei ihnen die Stelle der Butter vertritt. Sie brauen Bier aus Gerste und trinken es aus Trinkhörnern und hölzernen Kannen, die sie im Kreise herumgehen lassen, wenn sie beisammen sind, und wozu die Gesellschaft ein Trinklied singt, das lebhaft an unsere bekannten Studententrinklieder (So sauf doch, so sauf doch) erinnert. Es lautet folgendermaßen:

Banas, na kuchta furesti
Denvason, famesta
Banas, banas, banas!

d. h. Trinke, unsere Hände giepern. Es läuft aus. Trinke, trinke, trinke!

Diese Anführung verräth den Lesern freilich, daß die Osseten nicht deutsch sprechen, aber das wäre etwas zu viel verlangt, daß die Alanen unser deutsch geredet haben sollten. Die Sprache der Osseten gehört aber zu dem indogermanischen Sprachstamm und an Verwandtschaft fehlt es also auch nach dieser Seite hin nicht.

Die Osseten sind Christen, aber es steht noch etwas schief mit ihrem Christenthum. Sie haben namentlich eine große Abneigung gegen die Sonntagsfeier. Sie sehen nicht ein, weshalb sie den ihnen aufoktroyirten Sabbath anders begehen sollten, als die übrigen Tage.

Von den Festtagen lieben sie nur die, an denen geopfert und in Folge dessen auch geschmaust wird. Zu Ostern wird ein Schaaf oder Lamm, zu Weihnachten ein Schwein, ein Ochse oder mindestens eine Anzahl Gänse geopfert. Das Opfern scheinen sie aus ihrer Heidenzeit beibehalten zu haben. Einige von ihnen opfern auch noch in’s Geheim in Höhlen, die jetzt einzelnen Heiligen, namentlich dem Elias gewidmet sind. Es giebt unter ihnen auch noch Zauberer und Wahrsager, welche Glauben finden. Ferner hat sich der Wahn unter ihnen erhalten, daß die Katzen, Hunde und Esel verzauberte Thiere sind. Kommt ein Diebstahl unter ihnen vor, so nimmt der Bestohlene eine Katze, geht damit nach dem Hause dessen, den er in Verdacht hat, fragt ihn nach dem Gestohlenen und wirft, wenn er läugnet, die Katze mit den Worten in sein Haus: „Möge diese Katze die Seelen Deiner Vorfahren quälen!“ Ist sein Verdacht begründet gewesen, so soll der Dieb diesen Fluch selten aushalten, sondern das Gestohlene wieder geben. – Es kommen übrigens wenige Diebstähle und Unsittlichkeiten

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