Seite:Die Gartenlaube (1854) 363.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

in der Kajüte fallen läßt, an die Wand fliegen. Es weiß aber Jeder, daß hier ebenfalls alle Körper vollkommen senkrecht fallen. Es müssen also alle Körper, die vom sich bewegenden Schiffe getrennt werden, noch die Bewegung des Schiffes beibehalten. Wer also z. B. mit einer Büchse nach einer am Ufer befindlichen Scheibe schießt, wird dieselbe um so weniger treffen, je schneller das Schiff fährt und je weiter es vom Ufer entfernt ist; denn die aus der Büchse fahrende Kugel hat außer der ihr vom Pulver mitgetheilten Bewegung auch noch die des Schiffes, wird also an der Seite bei der Scheibe vorbeifliegen, nach welcher das Schiff fährt.

Legt das Schiff in einer Secunde zehn Fuß zurück und die Büchsenkugel 2000 Fuß, so wird bei einer Entfernung der Scheibe vom Schiffe von 200 Fuß die Kugel zehn Fuß seitlich von der Scheibe vorbeifahren. Recht deutlich kann man sich von dem in Rede stehenden Gesetze überzeugen, wenn man aus dem Fenster eines recht schnell fahrenden Dampfwagens einen Stein zur Erde fallen läßt; dieser Stein wird nicht nur, während er fällt, ununterbrochen in unserem Gesichtskreis bleiben, also uns senkrecht zu fallen scheinen, sondern auch, wenn er den Erdboden erreicht, nach derselben Seite, nach welcher der Dampfwagen fährt, mit so großer Gewalt fortrollen, daß er gewöhnlich Spuren seines Weges im Erdreich zurückläßt.

Daraus folgt unzweifelhaft, daß der fallende Stein die Bewegung des Dampfwagens beibehält und für einen Beobachter außerhalb desselben nicht senkrecht fallen, sondern sich mit dem Dampfwagen fortbewegen wird. Wenn ein Kunstreiter auf schnell dahin jagendem Pferde Kugeln in die Höhe wirft und wieder auffängt, so bewundern es Viele als eine ganz absonderliche Geschicklichkeit des Mannes, die Kugeln gerade so weit vorwärts zu werfen, daß er sie bei ihrem Herunterfallen wieder fangen kann; denn wenn er das nicht machte, würden ja die Kugeln in seinem Rücken niederfallen. Dem ist aber nicht so, denn nach dem Gesetze der Trägheit fallen die Kugeln schon von selbst an der richtigen Stelle nieder, weil sie die Bewegung des Pferdes, auch nachdem sie aus der Hand geflogen sind, beibehalten; es ist also nur nöthig, daß der Kunstreiter sie senkrecht in die Höhe wirft. Ebenso braucht der Kunstreiter, wenn er auf dem jagenden Pferde über etwas hinwegspringt, nicht vorwärts, sondern nur gerade in die Höhe zu springen.

All diese Thatsachen der alltäglichen Erfahrung beweisen das Gesetz der Trägheit unzweifelhaft. Die Physik bietet Beweise dafür in Menge dar und wir werden später Gelegenheit genug haben, daran zu erinnern.

Vorläufig wollen wir nur zwei Erscheinungen aus diesem Bereiche namhaft machen. Die erste ist die Bewegung der Himmelskörper selbst, welche sich nur erklären läßt, wenn man annimmt, daß die Materien ursprünglich eine Bewegung gehabt haben, die nicht verloren gegangen ist und in Verbindung mit der gegenseitigen Anziehung den ununterbrechenen Kreislauf dieser Körper hervorbringt. Die andere Erscheinung besteht darin, daß kein Körper von unserer Erde, wenn er zeitweilig von ihr getrennt wird und frei im Raume schwebt, sich von ihr entfernen kann, was er doch wegen der doppelten Bewegung der Erde um ihre Achse und um die Sonne müßte, behielte er nicht auch dann noch die im verbundenen Zustande mit der Erde ihm mitgetheilte Bewegung. Verläßt z. B. eine Kanonenkugel die Röhre und hätte sie von da an nur die ihr durch das Pulver mitgetheilte Bewegung, so würde sie in den meisten Fällen mit furchtbarer Geschwindigkeit sich von der Erde entfernen und nie wieder zu ihr zurückkehren. Die atmosphärische Luft, der Unkundige diese Erscheinung gewöhnlich zuschreiben, würde das nicht hindern können. Es behält aber die Kugel auch nach ihrer Lostrennung von der Erde die Richtung und die Geschwindigkeit derselben im Augenblicke der Lostrennung bei und muß der Erde folgen.




Pariser Bilder und Geschichten.
Monsieur Porcher.

Im Kaffee „Divan“ der rue Lepeletier, der großen Oper gegenüber, machte sich mir, der ich noch ein Neuling in Paris war, ein Mann schon durch seine Erscheinung, durch ein besonderes Wesen, noch mehr aber durch seine Beziehung zu vielen der Personen, welche das Kaffeehaus theils als zufällige, theils als Stammgäste besuchen, bemerkbar. Das genannte Kaffeehaus wird meist von Künstlern, Schauspielern, Malern und Dichtern besucht, die sich da zusammenfinden, um auszuruhen von den Mühen des Ruhmes, der Gesellschaft und der Arbeit, und sich nebstbei durch Mittheilung, durch Kaffee und eine Parthie Dordes zu vergnügen. Alfred de Musset, in seiner guten Zeit, da sein Geist frisch und sprühend war wie seine Gedichte, war alle Tage in diesem Kaffeehause zu treffen. – Ich bemerkte, daß die meisten der anwesenden Künstler meinen Mann mit einer seltsamen Mischung von Hohn und Höflichkeit, von Geringschätzung und Zuvorkommenheit behandelten, daß er aber seinerseits ihnen mit großer Artigkeit und Freundlichkeit begegnete, die aber das Gepräge stolzer Herablassung an sich trugen.

Das Aeußere des Mannes, den ich Monsieur Porcher nennen hörte, verkündete eine Selbstzufriedenheit, die nicht weit von Anmaßung entfernt und eine auffallende Wichtig- und Vornehmthuerei. Die Finger strotzen von goldenen Ringen. Ein englischer Chronometer an einer schweren goldenen Kette wird übermäßig oft in Anspruch genommen. Der Anzug ist in einem guten Stand und von elegantem Zuschnitt. Sein Gesicht ist schwammig, von der Zeit und wüstem Leben abgenützt und verschossen. Auf einer kräftigen, etwas nach Oben strebenden Nase, sitzt jeder Zeit eine schwarze Zwickbrille, welche an einem buntgefärbten Bande hängt, das ihr zur Unterlage dienende Organ arg zusammenklemmt und aus seiner natürlichen Form bringt. Die grauen Augen blinken scharf und nicht selten über die Gläser hinweg. Die grauangeflogenen Haare, reichlich genug vorhanden, sind von einer häufig in Falten gezogenen niedern Stirn sorgfältig zurückgestrichen, wie das bei Künstlern und Denkern öfters vorkommt. Eine überhand nehmende Beleibtheit läßt Herrn Porcher alle Lebhaftigkeit des Franzosen, die sich in der Hast der Bewegungen und der Sprache kund giebt. Oefters sah ich ihn mit vielen wenig anziehenden Personen, die ihn ehrerbietig umstanden, im leisen Gespräche, das mit einem Eifer seinerseits, mit einer Aufmerksamkeit von den Anderen geführt wurde, daß ich dachte, es könne sich unmöglich um etwas Geringeres, als um das Heil des Staates handeln.

Herr Porcher las immer mit einem tiefen, sinnenden Ernst die politischen Zeitblätter, so daß Jeder, der ihn bei dieser Beschäftigung beobachtete, ihn für einen gereiften Staatsmann zu halten versucht sein mußte.

Meine Vermuthung nach dieser Richtung hin wurde aber durch den Umstand erschüttert, daß Monsieur Porcher die Feuilletons der Journale am Montag, da sie in der Regel die Theaterbesprechungen enthalten, mit besonderer Aufmerksamkeit durchstudirte. Meine Erfahrung lehrt mich, daß ein Politiker nie Feuilletons liest, folglich konnte Herr Porcher nach meinem Urtheil kein Politiker sein. Dazu kam noch, daß mein Unbekannter während des Lesens der Theaterkritiken die Wirkung dieser Lecture durch allerhand Bewegungen, durch ein lebhaftes Mienenspiel und durch halblaute Monologe kund gab, die freilich, wenn irgend ein Nachbar seiner Bekanntschaft zur Hand war, sich in Anreden verwandelten. Ich hatte einige Mal Gelegenheit, diese Anreden zu hören, und weit entfernt, mich aufzuklären, machten sie mich über den Mann noch mehr irre.

„Charlotte Corday von Ponsard“, hörte ich ihn einmal ausrufen, als er sein Feuilleton las, „nennt der ein Stück voll Kraft und erschütternder Wirkungen, das kein Publikum kalt lassen kann – der hat’s bequem – etwas Tinte, eine Feder und Papier, dann schreibt sich das so leicht hin, als wäre es richtig. Erschütternde Wirkungen, wo denn? Ich habe nichts davon gespürt, und ich weiß doch auch so gut, wie diese Herren vom Feuilleton, ein warmes von einem kalten Publikum zu unterscheiden. – Wenigstens glaube ich mich zu diesem Selbstlob berechtigt. –

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 363. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_363.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)