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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

„Mein Retter, mein Wohlthäter!“ rief er aus „Jetzt begreife ich Alles!“

„Und auch das werden Sie begreifen, mein Freund, daß Sie Louise in einem ungerechten Verdacht gehalten haben. Sie kennt nicht einen einzigen der verhängnißvollen Briefe, denn sie gelangten alle in meine Hände.“

„Aber sie kennt das Unternehmen des Advokaten?“

„Ich hielt es für Pflicht, sie davon in Kenntniß zu setzen. Die Worte, die sie in ihren Fieberphatasien ausstieß, waren die Befürchtung der Möglichkeit eines solchen Falles. Und nun fort, nach Hause!“

Die beiden Männer bestiegen den Wagen den Doctors, der an dem Landhause hielt.

„Wie lernten Sie Helenen kennen?“ fragte der Kaufmann.

„Man rief mich in das Hotel zu dem kranken Kinde einer angekommenen Reisenden. Die junge Dame, die in der That von auffallender Schönheit war, nahm mein ganzes Interesse in Anspruch, und sie faßte ein so großes Vertrauen zu mir, daß sie mir sagte, wer sie war, und mich um Auskunft über die Familie Morel bat. Das Uebrige können Sie sich denken.“

Der Wagen hielt vor Raimund’s Hause. Der Arzt führte den Kaufmann in das Zimmer seiner Gattin. Louise stand vor Erwartung zitternd an dem Bette ihres Kindes, als die beiden Männer eintraten.

„Louise!“ rief Joseph außer sich – und schloß die reizende Frau in seine Arme.

„Kinder,“ sagte der alte Arzt, „wollt Ihr jetzt auf meinen väterlichen Rath hören?“

„Reden Sie, Doctor, reden Sie!“ riefen Beide.

„Stellt keine Erörterungen an, fragt nicht und antwortet nicht, sondern überlaßt Euch dem Glücke des Augenblicks, das neu erstrahlend wie die Sonne nach einem Gewitterregen durch die Wolken bricht. Sie, Freund Joseph, bedürfen einer weitern Aufklärung nicht mehr, und Madame Louise wird vor Eitelkeit bewahrt,“ fügte er lächelnd hinzu. „Die Frau darf nicht wissen daß sie außer ihrem Manne auch noch Andern gefallen. Jetzt bereiten Sie sich zu einer Badereise vor, in vierzehn Tagen müssen Sie in Pyrmont sein. Gute Nacht!“

Der Doctor war verschwunden. Joseph und Louise standen Arm in Arm an dem Bette ihres ruhig schlafenden Kindes, sie sprachen nicht, aber durch eine innige Umarmung feierten sie die Versöhnung nach dem ersten ehelichen Sturme. Beide befolgten um so lieber den Rath des Arztes, da sich jedes nicht ganz vorwurfsfrei wußte. Louise kannte die Briefe des Advokaten, und Joseph schämte sich seiner Eifersucht um so mehr, als er am folgenden Morgen einen Brief erhielt, worin Julius ihm ankündigte, daß er mit seiner Frau und seinem Kinde nach Wien gereis’t sei, und seine Praxis einem befreundeten Advokaten übertragen habe. „Verschweige Deiner Gattin meine Verirrung,“ schloß er, „denn außer in den Briefen, die man ihr glücklicherweise vorenthielt, existiren keine Beweise davon. Der würdige Friedland hat mich vor mir selbst gerettet.“

Vierzehn Tage später hatte das Landhaus Raimund’s ein festliches Ansehen, aus allen Fenstern desselben schimmerte Licht, und die vorübergehenden Spaziergänger blieben stehen, um den fröhlichen Weisen der Quadrillen zu lauschen, und die schön geschmückten Tänzerpaare vorüberschweben zu sehen. Eine glänzende Gesellschaft war in den sinnig verzierten Sälen versammelt, und Alles athmete Frohsinn und Lust.

Louise, einfach aber geschmackvoll gekleidet, saß wie eine Königin in der Mitte von Freunden und Bekannten, und empfing die Glückwünsche zu ihrer Genesung. Als der Doctor Friedland erschien, erhob sie sich, sank dem vor Freude strahlenden Greise an die Brust, und bedeckte ihn im Uebermaße ihrer Gefühle mit Küssen.

Außer Joseph kannte Niemand die doppelte Gefahr, aus welcher der Arzt die junge Frau gerettet, denn die Briefe des Advokaten blieben ein Geheimniß, und auch der Verfasser dieser Erzählung würde keine Kenntniß davon erhalten haben, wenn er nicht vor zwei Monaten unter den nachgelassenen Papieren des allgemein betrauerten Arztes Notizen darüber gefunden hätte.

August Schrader.

Erfurter Geschichten.
I. Der König von Jerusalem.

Zu Erfurt lebte vor sechshundert Jahren Einer, der hieß Herr Ulrich Hetzenbrecht, seines Zeichens aber war er ein Schneider.

Wär’ nun selbiger Herr Ulrich bei seiner Schneiderkunst geblieben, hätt’ es so weit nicht gefehlt. So aber kam ihm ganz was Anderes zu Sinn. Er nähte alle Tage weniger und versenkte seinen Geist statt der Ober- und Unterstiche in tiefsinnige Geschriften, und so der erste Morgenstrahl sprühte, fand er gar oft, was der letzte am Abend vorher gefunden – der Herr Ulrich las und studirte.

Nun wurde kein Rock und kein Wams mehr fertig, kam er ja mit einem Stück zu Ende, war es sicher zu eng oder zu weit, und wann sich die Leute beklagten, ließ sich Herr Ulrich nicht zum Feinsten heraus, schier als ob es eine Gnade und Gunst wäre, daß er der Kunden Geld annähme. Also wurden der Kunden allwöchentlich weniger, Herr Ulrich hingegen nahm stets zu an Tiefsinn und Gelehrtheit. Allgemach überkam ihn ein hohes Bewußtsein, glaubte sich derselbe zu großen Dingen berufen und erkoren, und da man das Jahr 1240 schrieb, war er schon längst aus dem Concept gekommen, ging Tag für Tag in den Straßen von Erfurt umher und glaubte dabei nichts Geringeres, als er sei der König von Jerusalem.

Nun sollt Ihr in Kurzem vernehmen, wie’s erging, allbis der Schneider zum König ward.

Welch heilig erhabenes Werk die Kreuzfahrer unternahmen und was wunderbarer Eifer Jünglinge, Männer und Greise zum Zug in’s heilige Land entflammte, das ist Jedem wohl bekannt, nicht minder, wie des Sieges Botschaft stets neue Schaaren zu gleichem Ziele fortriß – erscholl aber die Kunde von Niederlage und weiterem Drangsal der Christen, so zogen der Schaaren so viel mehre von dannen, aufopfernd Gut, Blut und Leben.

Wie nun das schon lange Zeit anwährte, kam ein Geist auch über die Kinder.

Durch ganz Sachsenland ging ein Knabe, Namens Seraph, und der sang ein Lied. Drin war verkündet, alle Ungläubigen sollten sich bekehren, und was Heiliges sie den Kreuzfahrern wieder entrissen, das sollten sie gutwillig herausgeben.

Auf des Knaben Seraph Wort und Gesang hin erfüllte sein Geist vieltausend andere Kinder, entbrannten Diese, in Land Syrien zu ziehen, verließen Vater, Mutter und Heimath und nichts vermochte, sie zurückzuhalten. Also wanderten sie betend und singend dahin und gedachten, über das Meer zu fahren. Da starben ihrer die Mehrzahl an Hunger, Durst und Ermattung. Die Wenigen aber, so sich gen Welschland schleppten und in die Schiffe gelangten, wurden des Meeres Beute. Denn die Stürme brachen in wildester Wuth herein, und was da lebte und webte, von unbändigen Wellen ward es verschlungen!

Darüber verstrichen über zweimal zehn Jahre.

Mittlerweil aber lebte Herr Ulrich in der lebesamen Stadt Erfurt, und so oft von denselben Kindern die Rede war, sagte er: „Wär’ nur ich dabei gewesen!“ Zugleich las und studirte er immer mehr, tagtäglich stieg sein innerlicher Hochmuth, wo er immer eine Prophezeihung fand, so wußte er sie auf sich zu deuten, also währte es die kürzeste Zeit, bis er felsenfest überzeugt war, er sei der rechte Mann zu großen Dingen, und so er nur die Menschen aufriefe, so thäten sie Alles, was er von ihnen verlange.

Machte sich nun einst auf, acht Tage nach Pfingsten war’s, bestieg einen erhabenen Stein und hielt eine gewaltige Rede an die Erfurter. Darin forderte er sie auf, die Waffen zu ergreifen, er selbst aber wolle sich an die Spitze stellen und sie zum Sieg gegen die Türken führen.

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