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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

Julius, lassen Sie mich – vergessen Sie mich – ich darf Sie nicht mehr anhören! Gehen Sie – ich muß meine verlorene Ruhe wiedererlangen. O wie strafbar sind wir! Joseph ist Ihr Freund – Ihr Bruder – wir haben ihn verrathen! Mein Gott, verzeihe mir!“

Joseph war zur Bildsäule erstarrt. Fürchterliche Gedanken durchkreuzten seinen Kopf. Diese Frau, die er glücklich, schön und tugendhaft verlassen hatte, fand er auf dem Sterbebette wieder, eine Sünderin an den heiligsten Pflichten, eine Verrätherin an der Liebe, die ihm Alles war auf dieser Welt – und der Urheber dieses Unglücks war Julius, sein einziger, sein bester Freund!

Es schien, als ob die Kranke von einem gewaltigen, unwiderstehlichen Drange zum Reden gezwungen würde, als ob die Stimme des Gewissens sie zum Geständnisse und zur Bekehrung aufforderte. Ihre hastig und kurz ausgestoßenen Worte unterbrachen Seufzer und ein heftiges Schluchzen.

„Nehmen Sie Ihre Briefe zurück, Julius,“ fuhr sie fort, indem sie die bebenden Hände ausstreckte – „sie brennen wie Feuer auf meiner Seele – sie tödten mich – vernichten Sie die Papiere – und alle Erinnerungen an unsere verbrecherische Liebe!“

Der arme Joseph vermochte seine Fassung nicht länger zu bewahren, er stieß einen durchdringenden Schrei aus, und sank neben dem Bette nieder, dessen Pfosten er mit vor Schmerz und Verzweiflung bebenden Händen umklammerte.

Durch diesen Schrei schien Louise zum Bewußtsein und zum Leben zu erwachen; sie erkannte ihren Mann, und machte eine verzweifelte Bewegung, als ob sie sich der Papiere, von denen sie gesprochen, wieder bemächtigen wollte. Dann sank die unglückliche Frau in die Kissen zurück, und ihre Glieder erbebten in einer fürchterlichen Convulsion. Der Arzt trat hastig näher, führte den willenlosen Raimund zu einem Sopha, und beschäftigte sich dann mit der Kranken.

Eine ängstliche, unheimliche Stille herrschte in dem Gemache. Die kranke Gattin lag wie todt in ihrem Bette, und der unglückliche Gatte, von gräßlichen Gedanken gefoltert, fast regungslos, einer Leiche ähnlich, in einer Ecke des prachtvollen Polsters.

So verfloß eine halbe Stunde, dann schloß der Arzt die Vorhänge des Bettes und setzte sich zu Raimund, der in diesem Augenblicke aus seinem schmerzlichen Nachsinnen erwachte. Als er die geschlossenen Vorhänge sah, fragte er mit tonloser Stimme:

„Ist sie todt?“

Und zugleich überlief seinen Körper ein kalter Schauder.

„Sie ist gerettet,“ antwortete leise der Greis – „sie wird leben!“

„Gerettet, gerettet,“ schluchzte der arme Mann, „und ich bin verloren!“

Er bedeckte mit beiden Händen das Gesicht, sein Schmerz löste sich in Thränen auf – er begann still zu weinen. Der Himmel hatte ihm seine Gattin wiedergeschenkt, der Freund hatte sie ihm entrissen.

Auch dem greisen Arzte traten die Thränen in die Augen.

„Bedenken Sie,“ tröstete er, „daß die Kranke im Fieberwahne gesprochen hat. Die Phantasiegebilde eines Kranken sind oft so wunderlich, daß sie Schrecken erregen, und dennoch entbehren sie jeder Begründung. Sie haben weder ein Recht, Ihre Gattin zur Rechenschaft zu ziehen, noch weniger aber dazu, sich mit verderblichen Illusionen zu martern. Sie bedürfen der Ruhe, mein lieber Freund, gehen Sie zu Bett. Vertrauen Sie Ihrem Arzte, der zugleich Ihr väterlicher Freund ist; hat sich die Aufregung gelegt, so sprechen wir mehr über diesen Gegenstand, und Sie werden sehen, daß ich Recht habe.“

Geduldig wie ein Kind, ließ sich Raimund in sein Zimmer führen. Der Arzt gab der Kammerfrau noch einige Anweisungen. Dann verließ er das Haus, in welchem der Reichthum, aber auch das Unglück wohnte. Nachdem er seine nahe Wohnung erreicht, holte er ein Paket Briefe hervor. Er öffnete einen derselben, las ihn und flüsterte mit Entsetzen: „Louise ist strafbar! Es ist ein Glück, daß ich mich dieser verhängnißvollen Papiere bemächtigen konnte, welche die Kranke in ihrem Bette zu verbergen suchte. Noch gebe ich das Glück des braven Raimund nicht auf, ich hoffe, daß ich die Verirrte auf den rechten Weg werde zurückführen können. Louise ist von Herzen gut und liebt ihren Gatten; der schurkische Advokat muß ein großer Virtuos in der Verführungskunst sein, daß ihm diese Infamie gelungen ist.“

Der Doctor Friedland verschloß die Briefe in seinem Secretair.


III.

Am folgenden Morgen erschien der wackere Arzt im Hause Julius Morel’s. Der Advokat, ein schöner, blühender Mann von neunundzwanzig Jahren, empfing den Doctor in seinem Arbeitszimmer.

„Was ist das, Doctor?“ rief er aus. „Ihr sonst so heiteres Gesicht ist ernst – bringen Sie mir eine Trauerkunde?“

„Nein, Herr Morel.“

„Wie befindet sich Madame Raimund?“ fragte er mit großer Theilnahme, indem er den Arzt zum Sopha führte.

Der Greis sah den jungen Mann mit einem scharfen Blicke an.

„Sie ist seit gestern außer Gefahr,“ antwortete er ruhig und ernst. „Diese Nacht trat eine heilsame Krisis ein.“

„Gott sei Dank!“ rief der Advokat. „Nun fürchte ich die Rückkehr meines Freundes Raimund nicht mehr.“

„Die Krisis,“ fuhr der Arzt fort, „war heilbringend für Körper und Geist der Kranken.“

„Für den Geist?“ fragte Julius verwundert.

„Oder richtiger, für das Herz, Herr Advokat. Es war in Beiden eine Störung der gewöhnlichen Existenz eingetreten, die durch eine Reaction nun wieder beseitigt ist. Ich besuchte diesen Morgen die Kranke. – Die Genesung hat begonnen, und wenn nicht neue, heftige Gemüthserschütterungen eintreten, so wird Raimund’s, unsers gemeinschaftlichen Freundes, Glück bald wieder feststehen. Den ersten Impuls zu der schweren Krankheit Madame Raimund’s hat ein moralisches Leiden gegeben, gegen das sie lange gekämpft haben muß. Die Frauen sind von Natur schwächer als die Männer, und es ist unsere Pflicht, die Schwachheit nicht zu mißbrauchen, vorzüglich wenn ein Freund darunter leidet.“

„Sie sprechen seltsam, Doctor!“ rief Julius, indem er eine leichte Verwirrung zu verbergen suchte.

„Aber doch für den verständlich genug, der das unbeschreibliche Glück kennt, das Raimund in dem Besitze seiner unbescholtenen Gattin findet. Der Arzt hat einen scharfen Blick, mein Herr, und er sieht durch den kranken Körper in die tiefste Seele, die von jenem abhängig ist. In Louisen’s Seele habe ich nun gelesen, daß sie nicht frei von verderblichen Einflüssen ist, daß sie vielmehr in ihrer Eitelkeit Huldigungen empfängt, die das schwache Weib auf Abwege führen. Der Arzt sucht den Quell der Krankheit zu ersticken, wenn er heilen will – Herr Morel, ich bin der Arzt Louisen’s – Sie sind der Freund Raimund’s – ich bitte Sie, zerstören Sie mir meine Kur nicht durch Unvorsichtigkeit.“

„Was soll das heißen, mein Herr?“ fragte Julius wie verletzt. „Mir scheint, Sie setzen Dinge von so zarter Natur voraus, daß sie dem Bereiche eines Arztes fern liegen.“

„Mein Herr,“ sagte ernst der Greis, „eine lange Erfahrung hat mich meine Pflichten und Berechtigungen so genau kennen gelehrt, daß ich deren Grenzen wohl zu unterscheiden weiß. Fürchten Sie also nicht, daß ich sie überschreite, noch weniger aber, daß ich zu falschen Mitteln greife, wenn ich den Grund der Krankheit erkannt habe. Sie fühlen sich verletzt, indem ich als Arzt zu Ihnen rede – dies ist mir ein sicheres Merkmal, daß ich den rechten Punkt getroffen habe. Herr Morel, Ihr Vater hat Raimund’s Glück begründet – wollen Sie, der Sohn, es zerstören?“

„Ich habe nie daran gedacht!“ fuhr Julius auf. „Uebrigens erklären sie sich deutlicher, mein Herr, und aus Rücksicht für meinen Freund Raimund werde ich Sie ruhig anhören.“

„Gut, gut,“ sagte der Greis, „so will ich reden, und Ihnen als Arzt Verhaltungsregeln vorschreiben. Gestern Abend ist Raimund von seiner Reise zurückgekehrt, ich konnte ihm die tröstliche Versicherung geben, daß seine Louise gerettet ist. Was ich in der Kranken erblickt, die von schmerzlicher Reue gefoltert wird, muß zu seinem und seiner Gattin Heile ihm ein ewiges Geheimniß bleiben. Ihre Freundschaft ist dem braven Manne ein Bedürfniß, ich weiß es – setzen Sie Ihre Besuche als ein wahrer Freund fort, achten Sie Louise als seine Gattin, und tragen Sie Sorge, daß er nie, nie die Verirrungen derselben erfahre. Die Brust des Arztes ist ein heiliges Depositum – unser Gespräch ist vergessen, und selbst Louise, die meine Kenntniß ihres Uebels nicht ahnt,

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