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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

Handlungshäuser der Stadt. Die Kranke ist Louise Raimund, die innig geliebte Gattin des jungen Kaufherrn.

Joseph Raimund stammte aus einer unbemittelten Familie; aber seine redlichen und großmüthigen Gesinnungen, seine Liebe zu allem Großen und Erhabenen und seine rastlose Thätigkeit wiesen ihm einen Platz in jener kleinen Zahl von arbeitsamen und intelligenten Menschen an, die sich künftig eine Bahn durch die Wogen des Lebens brechen. Joseph hatte früh schon seine Mutter verloren, und sein Vater, ein achtbarer aber armer Maler, hatte ihm jene schlecht geleitete und ungenügende Halbbildung geben lassen, die in unserer Zeit für das praktische Leben so wenig taugt. So hatte er bis zu seinem fünfzehnten Jahre das Gymnasium besucht. Um diese Zeit verfiel der Maler in eine langwierige Krankheit, an Erwerb war nicht mehr zu denken, und Joseph, den Kopf voll Griechisch und Latein, voll heroischer Erinnerungen und glorreicher Traditionen, mußte in dem väterlichen Hause bleiben, um den Kranken zu pflegen und mit Mangel und Elend zu kämpfen. Die Krankheit des Vaters endigte nach einigen Wochen mit dem Tode, und der arme Joseph war älternlos.

Seine Lage war die bejammernswertheste von der Welt, und ein weniger stolzer Geist als der seine würde dieser trostlosen Wirklichkeit, die alle seine Illusionen und Hoffnungen mit einem Schlage vernichtete, erlegen sein; aber Joseph ließ sich nicht entmuthigen. Wie er früher von Ehre, Glück und Vermögen geträumt, so fügte er sich jetzt der Armuth und der Arbeit.

Joseph hatte auf dem Gymnasium mit Julius Morel eine jener so ergebenen, so uneigennützigen Freundschaftsverbindungen unterhalten, die den Anschein haben, als ob sie ewig dauern müßten, aber wie alle Ideen und Ansichten in diesem Lebensalter durch den Druck der socialen Verhältnisse einer Wandelung unterliegen.

Der Vater des jungen Morel war ein reicher und vielgesuchter Advocat. Er hatte Joseph’s Ordnungsliebe, seine Intelligenz, seine Lebhaftigkeit und seine beharrliche Willenskraft kennen gelernt. Als Herr Morel von dem Unglücke hörte, das den Freund seines Sohnes betroffen, fühlte er das lebhafteste Mitleid, er nahm sich des Verwaisten thätig an, und bald gelang es seinen Empfehlungen, ihm eine Stelle bei einem Negocianten zu verschaffen. Joseph gab sich nun der Arbeit mit einem brennenden Eifer hin. Noch waren nicht zehn Jahre verflossen, und aus dem armen Commis war ein erster Buchhalter geworden. Nach kurzer Zeit ward der Buchhalter Cassirer, und der Cassirer schwang sich zum Compagnon des Handlungshauses empor, in das ihm die liebevolle Fürsorge des Herrn Morel Zutritt verschafft hatte.

Zeit und Unglück hatten das Freundschaftsband, das Joseph und Julius umschlang, nicht gelockert; die beiden jungen Leute liebten sich, und keiner hatte vor dem Andern ein Geheimniß. Joseph sprach von seinen Arbeiten, von seinen Mühseligkeiten und seinen Hoffnungen – Julius ermuthigte ihn, und hatte seine Freude daran, wenn er ihm die Zukunft mit lebhaften und glänzenden Farben schildern konnte. Solche Unterredungen fanden in der Regel Sonntags statt, wenn die beiden Freunde an den Ufern der Elbe weite Spaziergänge unternahmen, sich am Fuße eines Baumes niederließen, und mit jugendlicher Schwärmerei den Ergießungen des Herzens folgten.

In einer dieser traulichen Unterhaltungen gestand Joseph seinem Freunde, daß er die Tochter seines Prinzipals liebe.

Louise Cordes war ein reizendes Mädchen von achtzehn Jahren. Sie hatte ein volles blondes Haar, einen schneeweißen Teint, himmlisch blaue Augen, sanft geröthete Wangen, und schön geschweifte rosige Lippen, die, wenn sie sich öffneten, blendend weiße Perlenzähne zeigten. Oft artete ihre kindliche Fröhlichkeit in Uebermuth aus, aber sie verstand es, zu rechter Zeit den Zügel anzulegen, und dann zeigte sie einen guten, großmüthigen Charakter. Seit ihrer Rückkehr aus dem Pensionate einer benachbarten Residenz wohnte sie bei dem Vater. Joseph, der sie nun täglich sah, liebte sie bald mit der ersten Glut der Jugend, und nach zwei Jahren ungewissen Harrens und Hoffens glaubte er die Gewißheit zu haben, daß Louise ihn wiederliebe.

Sechs Monate später ward Louise Cordes die Gattin Raimund’s, und der junge Mann, der einst als armer Waisenknabe in das Haus gekommen, befand sich auf dem Gipfel irdischen Glückes.

Seit dieser Heirath hatte Louisen’s Vater dem Schwiegersohne das Geschäft übergeben, und sich auf ein Landgut zurückgezogen, was er auf den fruchtbaren Fluren Holsteins besaß. Joseph arbeitete mit verdoppeltem Eifer, er erweiterte den Kreis seiner Operationen, und in wenig Jahren hatte er das Vermögen seiner Frau um das Zwiefache vermehrt. Als Vater eines reizenden Kindes, das er mit Liebe erzog; als Gatte einer schönen, zärtlich geliebten Frau, die ihn wiederliebte; reich, geachtet und geehrt war Joseph Raimund der glücklichste der Menschen. Um diese Zeit kam auch Julius Morel von einer großen Reise zurück, die er nach glänzend bestandenem Examen angetreten; er übernahm die ausgebreitete juristische Praxis seines Vaters, und ward Advokat.

Joseph Raimund feierte einen hohen Festtag, als er Julius, den Freund und Bruder, seiner geliebten Louise vorstellen konnte. Das Haus Joseph’s ward auch das Julius Morel’s, und die Freundschaft erhöhte das Glück der Liebe.

So standen die Sachen, als Raimund, der, wie schon gesagt, seine Handelsverbindungen erweitert hatte, eine Reise nach Süddeutschland unternehmen mußte. Er wollte nur einen Monat dazu verwenden; glückliche Anknüpfungen aber veranlaßten ihn, länger zu bleiben, und in Frankfurt am Main empfing er von dem Doctor Friedland eine telegraphische Depesche, die ihn von der Krankheit Louisen’s in Kenntniß setzte. Die Eisenbahn brachte ihn bald nach Hamburg, und drei Stunden nach seiner Ankunft fand die Scene statt, die wir Anfangs mitgetheilt haben.

II.

Joseph Raimund war dreißig Jahre alt; aber schon zeigten sich in seinem schönen Gesichte die Spuren seines Fleißes und seiner anstrengenden Thätigkeit. Das Haar begann zu bleichen, auf der Stirn zeigten sich Furchen, und die vollen Wangen sanken zusammen. In diesem Augenblicke, wo wir ihn zu den Füßen seiner kranken Gattin sehen, lauschend auf jeden Athemzug, der dem geliebten Munde entquillt, beobachtend jedes Zucken der zarten Glieder, die er schon dem Tod verfallen wähnt – jetzt erliegt Joseph, der starke Mann, das Werkzeug seines eigenen Glückes, zum ersten Male den Schlägen des Unglücks. Eine herbe Verzweiflung hat sich seines Herzens bemächtigt, und in der vom furchtbaren Schmerze erzeugten Zerrüttung seiner Sinne hadert er mit dem Himmel, der ihm sein höchstes Gut zu entreißen droht.

Ein durchdringender Schrei, den plötzlich die Kranke ausstieß, weckte ihn aus seiner schmerzlichen Betäubung. Die Krisis hatte begonnen. Louise erhob gewaltsam ihren schweren Kopf. ihre Augen blitzten in einem seltsamen Feuer, und gebrochene Worte und klagende Seufzer entrangen sich den bleichen Lippen.

Der Arzt gab Raimund ein Zeichen, daß er sich ruhig verhalten möge. Der unglückliche Gatte sah mit trockenen, starren, Augen auf die Leidende, mit übermenschlicher Anstrengung suchte er seine Fassung zu bewahren – aber der Schmerz besiegte ihn, zitternd faltete er die Hände, und sank neben dem Bette auf beide Knie nieder.

Die Kranke stieß einige unverständliche Worte aus, dann begann sie bitterlich zu weinen.

Eine peinliche Pause trat ein. Wie gern hätte Joseph seine arme Gattin in die Arme geschlossen, und die Thränen von ihren hohlen Augen geküßt – aber der Arzt bat durch Geberden und Winke, daß er seine Anwesenheit nicht verrathen möge. Das schwache Licht der Lampe beschien eine traurige Gruppe.

„Mein Gott! Mein Gott!“ flüsterte die Kranke in ihrem Fieber, „ich bin verloren! Warum habe ich auf ihn gehört? Joseph, mein guter, großmüthiger Joseph, darf ich Dir je wieder unter die Augen treten? Laß mich – ich bin eine unglückliche Gattin – laß mich – ich bin Deiner nicht mehr würdig!“

Bei diesen Worten hatte sich Raimund erhoben, seine starren Augen glühten, und, gebeugt über das Bett, schien er jedes Wort zu verschlingen, das in kurzen Stößen den Lippen der Sterbenden entschlüpfte.

„Fieberphantasien!“ flüsterte der Arzt.

Aber vergebens bemühte sich der besorgte Greis, den aufgeregten Gatten von dem Bette zu entfernen. Joseph sah und hörte nichts mehr – sein Gesicht, noch blässer als das ihrige, neigte sich tiefer über das Bett, und er sog begierig alle Worte ein, die das Delirium der unglücklichen Frau entriß.

„Ich ertrage es nicht mehr!“ fuhr sie unter leisem Schluchzen fort. „Meine Kraft ist gebrochen – die Strafe ist zu schrecklich!

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verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 310. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_310.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)