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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

Tagen sechs englische Meilen weit her und viele rauchige Wohnungen Londons herab glänzen sehen kann. (Und die Wohnungen mit solcher Aussicht sind seitdem bedeutend theurer geworden.) Freilich eine wirkliche Ansicht und eine kleinlich schwarz auf weiß gezeichnete bilden hier einen wesentlicheren Unterschied als je. Welcher Maler kann den ätherischen Duft, diesen bläulichen, gehauchten Glanz des architektonischen Gewebes durch Wellen saftiger Landschaften, durch das heitere Spiel der Fontainen zwischen weißen Statuen, Blumen und Baumgruppen und lachende Rasenflächen, welcher Maler kann diese sichtbare magnetische Atmosphäre der großen Dichtung von Glas und Eisen auf dem Papiere wiedergeben? Die Schönheit der Baukunst, sonst durch künstlerische Proportionen von Säulen, Linien und Flächen oder durch arithmetisch bestimmte Massen wirkend, ist hier zu einer „gefrorenen Musik,“ so nennt Jean Paul die Baukunst, geworden, die fortwährend sichtbar gleichsam vor unsern Augen aufthaut und in Licht und Aether aufgeht. Doch auch dieses Licht und dieser Aether sind noch kein faßliches Bild. Fassen wir das Gebäude also derber in’s Auge.

Von seinen Größenverhältnissen haben wir schon in einer frühern Mittheilung gesprochen. Wir fügen nur noch einige weitere, interessante Thatsachen hinzu. Der Curiosität wegen erwähnen wir zunächst, daß der ganze Raum, den der Krystallpalast einnimmt, etwa 40 Millionen Kubikfuß beträgt, d. h. ein Drittheil mehr als der Ausstellungspalast von 1851 und viermal mehr als die wegen ihrer kolossalen Ausdehnung weltberühmte Paulskirche in London. Jeder der beiden Seitentransepte, deren Bogen wir auf dem Bilde sehen, ist so groß, wie der bewunderte Haupttransept der „Ausstellung.“ Die andern Raumverhältnisse kann man in dem frühern Artikel nachlesen. Nur noch einen Blick in die zwei Etagen der Unterwelt des Krystallpalastes mit seinem 1608 Fuß langen „Paxton-Tunnel,“ wo auf der einen Seite ausgestellte Maschinen und auf der andern die Herzkammern des ganzen Gebäudes, das Lebensblut für 15–20,000 Pflanzen, Bäume und Gewächse aller Zonen kochen, nämlich Dampfmaschinen mit ungeheuern Wasserkesseln, aus denen die verschiedenen Wärmegrade für die Pflanzen durch ein Röhrenadersystem getrieben werden, welches in einer großen Linie über funfzig englische Meilen lang sein würde.

Jetzt hinauf. Treten wir zunächst in einen der vielen offenen Portikus, welche die zauberischen Ansichten über die Garten- und Parkanlagen, Statuen, Fontainen, Seen, Inseln und die vorsündfluthlichen Ungeheuer, die darauf hausen (vergl. Nr. 10 1853 und Nr. 13 1854 der Gartenlaube]]) und weiterhin auf die gesegneten Wellenlinien des nach allen Seiten in die Ferne verschwimmenden Landes gewähren (der Krystallpalast erhebt sich auf dem höchsten Hügel dieser Gegend, dem Pengehügel). Doch auch dies muß mit einem Blick abgemacht sein, da wir heute in einem einzigen kleinen Artikel den ganzen Reichthum dieser Schöpfung in einer entzückten Eile durchfliegen wollen.

Also nun gleich mitten hinein und aufgeschaut. Hohe Säulen und Bogen und Perspektiven! Und in den Bogen blaue goldeingefaßte Felder und an den Säulen riesige Schlingpflanzen, die sich an ihnen hinaufwinden. Dabei plätschert lustig der Springbrunnen auf Nereiden herab, die auf Delphinen reiten, und auf seltsame, thauige Wasserpflanzen, unter denen die blühende „Victoria“ als Königin ihr Blumenhaupt aus dem Basin erhebt. Die Pflanzen setzen sich mit Statuen und ethnologischen Gruppen (lebenswahr und lebensgroß dargestellten Vertretern der verschiedenen Racen und Nationen der Erde und ihrer Lebensweise) durch das ganze Hauptschiff durch fort und gehen allmälig von den Vegetationsbildern der heißen Zonen bis zu denen der kältesten über.

Demnächst bilden den Hauptreiz die verschiedenen „Courts“ oder Höfe d. h. historischen Kunsthallen, welche sich hinter den Säulen des Hauptschiffs ausdehnen. Sie geben in Architektur, Sculptur, Inschriften und sonstigen Denkmalen eine glänzende Verkörperung der Kulturentwickelung der Menschheit. Wir befinden uns zuerst „in diesen heiligen Hallen“ Sarastro’s, zwischen den zu hieroglyphenbunten Säulen gewordenen Lotosblumen altägyptischer Tempel, aus denen nach den neuesten Forschungen die erste Kultur, die erste Philosophie und alle antike Weisheit der Menschheit floß, nachdem sie freilich Jahrtausende lang von Löwen und Sphinxen, die auch hier den Tempel umlagern, als „Geheimniß“ bewacht worden war. Außerdem ist Aegypten durch zwei Memnon’sstatuen, à 90 Fuß hoch und zwölf Sphinxe, 20 Fuß lang und 12 Fuß hoch jede, im südlichen Transepte wahrhaft gewaltig vertreten. Assyrien, neuerdings durch Entdeckung Ninivehs von den Todten erstanden, ist neben Aegypten dann auch glänzend durch eine Halle (assyrischen Prachtpalast) vertreten, dessen eigenthümliche Säulen und Nimrod’s und schön frisirten Ochsen mit Menschenköpfen und Adlerflügeln wir hier freilich nicht näher ansehen dürfen, wenn wir weiter kommen wollen.

Zunächst in die griechische Kunsthalle mit seinen edeln, ruhigen dorischen Säulen und seinen klaren, schönen, freien Menschen- und Gottgestalten, die den Ochsenkörper für die Kraft ihrer Schönheit und die Adlerflügel nicht mehr bedürfen, um uns auf den Fittigen der heiter und edel angeregten Phantasie in eine (nicht jenseitige) Idealwelt zu tragen. Wir erwähnen hier nur, daß in dieser Halle alle die durch Europa zerstreuten Originale berühmter griechischer Statuen in schönen, getreuen Kopien versammelt sind. Noch nie sah sie Jemand beisammen, noch nie in der ihnen eigenen architektonischen Sphäre. Man könnte hier ein Heide werden vor Andacht. Nach einem solchen Besuche muß man Schillers „Götter Griechenlands,“ lesen. – In der grandiosen Römerhalle sehen wir, wie die idealen Gesichter und Gestalten statt der griechischen eine Römernase bekamen, menschlicher werden oder Griechenland copiren, bis ein römischer Kaiser in dem elenden Stolze seiner Weltherrschaft einem Gottheitsbilde den Kopf abschlägt, um seine Büste darauf zu setzen. Das hieß „von Gottes Gnaden“ zu stark mißbrauchen. Rom starb einen kläglichen Tod auf einem Jahrhunderte langen Krankenbette und dann starb es vor vier Jahrhunderten noch einmal als oströmisches Kaiserthum und noch kläglicher, so daß ihm seine jetzigen Wiederauferstehungsversuche schwerlich gelingen werden. – Der christlich-germanische Geist war auf die Weltbühne getreten. Sehen wir in der Halle des Mittelalters und in unzähligen wegen ihrer Größe anderweitig placirten Denkmälern, wie er an gothischen Spitzbogen und in klösterlicher Andacht, an Heiligenbildern und Strebepfeilern über das entgötterte Irdische hinauszuklimmen und den Himmel zu erreichen sucht, der sich ihm so weit, so unerreichbar da oben ausspannt mit seinen Engeln und Heiligen. Dem Oriente war dies zu hoch und unbequem; er machte sich deshalb das Christenthum irdisch zurecht. So entstand der Muhamedanismus, der in seiner irdischen Pracht, Verschwendung und lebhaften Farbenfülle so anschaulich in seiner Halle uns umgiebt, daß man meinen sollte, man könne ihn hier ordentlich verstehen lernen und so die „orientalische Frage“ befriedigend lösen.

Die mittelalterlich-christliche Kultur konnte sich mit ihrer Zerspaltung und Auseinanderreißung von Himmel und Erde eben so wenig halten, wie es der versinnlichte Muhamedanismus vermag. Deshalb ließ man von Italien aus das heitere Griechenland wieder auferstehen, um die Erde wieder schön zu machen. Durch einige Mittelstufen drang dieser aus dem Alterthum neu belebte Geist auch in einen wittenberger Mönch. Und so platzten die Geister und bald auch die Schwerter „auf einander,“ um eine ganze tausendjährige Kultur zu verwüsten und eine neue zu schaffen. Die neue Kultur, insofern sie sich in der Plastik und Architektur verkörperte, findet zunächst in einer italienischen Halle ihren Tempel, den Michel-Angelo’s Riesengestalten als hohe Priester dieses neuen Kultus beherrschen.

Die neue Sculptur, durch den großen Krystallpalast reichlich vertreten, zeigt hier, daß sie durchaus nicht so arm ist, als sie verschrieen war. Canova’s, Thorwaldsen’s, Rauch’s, Tiek’s, Schwanthaler’s und mancher Franzosen und Italiener in Marmor vergöttlichte moderne Ideen sehen uns vertraulicher, individueller, anatomisch richtiger und physiologisch wahrer an, als die Bewohner den Olymp. Die moderne Sculptur ist im Krystallpalaste so umfassend reich vertreten, daß man sich hier vielleicht zum ersten Male wirklich von der höhern Schönheit der modernen Sculptur gegen die griechische überzeugen kann. Alle die berühmten klassischen Darstellungen der Schönheit des weiblichen Körpers unter dem Namen Venus – haben sich hier versammelt. Die modernen mit den Grübchen in den Backen sind offenbar schöner, als die mediceische. Einige schlafende oder in muskulöser Thätigkeit aufgefaßte nackte Männergestalten sind offenbar nicht nur wahrer, sondern auch schöner, als der Apollo von Belvedere. (Ich kehre mich nicht daran, daß mich hier jeder schulgerechte Aesthetiker von vorn herein ohne weitere Untersuchung als einen Ketzer verurtheilen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 278. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_278.jpg&oldid=- (Version vom 19.2.2017)