Seite:Die Gartenlaube (1854) 237.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

vorgerückt zu haltenden Jahreszeit in die milderen Striche der ebeneren Schweiz zurückjagen zu lassen. Einen ernsten Charakter trägt das Stück Erde, das wir am Abende vorher bei Pontalta (Pautaut), der hohen malerischen Brücke, die sich über einen in tiefer Schlucht dem Inn zurauschenden Bach spannt, betreten, in jeder Hinsicht. Natürliche Verhältnisse haben dem Unterengadin ein anderes Gepräge gegeben wie dem oberen Theile des Thales. Der breite grüne Thalgrund ist verschwunden; die beiden Thalgehänge stoßen unten zusammen; auch der Inn hat auf seinem jugendlichen Laufe hier das erste Hinderniß gefunden; die Mühe beginnt; ein von Süden vorspringender waldiger Kamm, vermuthlich der Ueberrest eines alten riesigen Gletscherwalles verengt das Thal und zwingt den Fluß, sich in engem steinigen Bette durchzuarbeiten. Von da wälzt er seine unruhigen Wasser, oft nur hörbar und dem Auge verborgen, durch eine tiefe waldige Schlucht dahin. Uns selbst geht es nicht viel besser bei dem Eintrttte in das größtentheils rauhe, spärlicher bewohnte Berggelände des Unterengadins. Führte uns bisher eine ziemlich gute, wenn auch kleine Thalstraße ohne unbequemes Hinderniß von Ortschaft zu Ortschaft, so ist diese bis auf wenige und kurze Strecken gleichfalls bei Pontalta hinter uns geblieben; der Weg ist an die nördliche Thalwand hinaufgeschoben und zieht sich nun bald auf- bald niedersteigend an den zahllosen Vorsprüngen und über die Thaleinschnitte hin. Und welcher Weg! Im kläglichsten holprigsten Zustande eine wahre Plage des Wanderers. Auch die Dörfer haben sich aus der unbebaubaren Tiefe an die höheren Stellen des Thales geflüchtet, von wo sie mit ihren hohen schlanken Kirchthürmen weit in das Thal hinabschauen. Selbst ihr Charakter, ihr äußeres Ansehen hat sich etwas verändert. Die modernen Wohnungen sind seltener geworden; die saubern, höchst behaglich eingerichteten Häuser reich gewordener Zuckerbäcker und Kaffeewirthe mit Frescofriesen, Pfeilern und vergoldeten Gittern, wie sie, in Silvaplana, Samada, den Dörfern ein fast städtisches Aussehen verleihen, reichen kaum bis hieher; wohl aber ist geblieben was die alte Sitte des abgelegenen Thales mit sich gebracht, oder ein lange dauernder strenger Winter fordert. Die weißen Steinhäuser mit flachem Schindeldache und in Nachahmung von Steinbockshörnern ausgeschnittenem Giebel haben auch hier ihre kleinen, sparsam und unregelmäßig an der Mauer, in die sie bei deren Dicke wie Schießscharten für den Gewinn möglichsten Lichtes und die Absperrung der rauhen Luft eingesenkt sind, vertheilten Fensterchen behalten. Eine gewölbte Doppelthüre führt in einen weiten Vorraum für alle Geschäfte des Hauses, auch für das Aus- und Abladen der kleinen Wagen bei geschlossener Thüre; der große Backofen in der Küche tritt bauchartig außen am Hause heraus; über den gewaltigen Ofen der getäfelten Stube steigt man in die Schlafkammern. Das strengere Klima hat die vierfüßigen Hausgenossen in den Kellerraum verlegen lassen, was nun freilich der ohnehin nicht übertriebenen Reinlichkeit nicht eben günstig ist und gleichfalls von der auffallenden, fast holländischen Sauberkeit im Oberengadin absticht. Eine Besonderheit bietet die Vertäfelung der Stuben. Die Arve, hier wie sonst wohl nirgends in stattlicher Größe und Stärke gedeihend, liefert genießbare und häufig genossene Früchte und daneben ein äußerst wohlriechendes Holz, womit der Engadiner das Getäfel seines Wohngemaches herstellt, vielleicht das duftendste dieser Art.

Auch sonst noch zeigen die Wohnhäuser des Engadins manche Besonderheiten. Die weiße Hauptmauer zieren eingegrabene Umrisse von Wasserfrauen, Löwen und Blumen; selten auch fehlt das große, mit heraldischem Bauwerk gezierte Familienwappen, das ehemals selbst die ärmlichste Hütte nicht entbehren durfte. Seit diese einfachen Bewohner eines entlegenen Thales, deren Urahnen wohl schon vor dem Schwerte eines Eroberers ihre Freiheit aus dem schönen Himmel Italiens in die rauhen Berge ihrer neuen Heimath geflüchtet haben, sich von einer Zahl kleiner Tyrannen, deren Schlösser, hier nur weniger zahlreich als im übrigen Graubünden, wie Geiernester von den Felsgipfeln selbst der abgelegensten Thäler drohten, durch ihre starke Hand losgemacht, suchte sich gewissermaßen das Selbstgefühl des freien Mannes und der Familie einen Ausdruck gerade in dem, worin bisher der anmaßende und gewaltthätige Adel ausschließlich das Zeichen seiner Selbstständigkeit gegenüber dem unterdrückten Hörigen erblickt hatte, in dem Wappen. Der Sieger nahm die Ehren und Vorzüge des Besiegten an sich. Von da an sagte ein altes Wort: daß nächst Gott und der Sonne im Engadin der gemeine Mann die höchste Obrigkeit sei. Gleichwohl lebt einmal Dagewesenes und Gegoltenes oft noch lange fort, und heute noch üben in dem durchaus demokratischen Thale die alten Adelsgeschlechter der Planta und Salis bedeutenden Einfluß aus, wobei man nun freilich bedenken muß, daß er ein ganz anderer geworden, als den einst ein wilder Ahnherr von seinem Felsenhorste aus geübt haben mag, und sich vielfach wohlthätig in die Geschicke des Landes verwachsen hat.

Wir hatten in nicht eben beneidenswerther Weise in Zernetz übernachtet. Der Ort ist ansehnlich und liegt schön am Zusammenflüsse des Inns, den man kurz zuvor überschreitet, und des Spöl, der aus den hohen wormsischen Thälern Livigno und Vallacia hervor fast gleich stark wie der Inn heranbraust, in diesem aber seinen Namen verliert. Die Einmündung seines Thales veranlaßt hier die einzige (größere Erweiterung des Unterengadiner Thalbodens.

Zernetz ist in der Geschichte des Landes durch einen Akt des Schreckens und eine That weiblicher Klugheit bekannt. In Graubünden spielt der Raub- und Brandzug des unmenschlichen österreichischen Obersten Baldrian im Jahre 1622 eine ähnliche Rolle wie bei uns die Verwüstung der Pfalz durch die grausamen Werkzeuge des großen (!) Ludwig von Frankreich; hierüber hat jener Mordbrennerzug, den nur eingeäscherte Dörfer bezeichneten, der graubündnerischen Landesgeschichte einen großen Reichthum heldenmüthiger Hingebungen und Waffenthaten eingeflochten. So wird erzählt, gegen die Banden jenes Wüthrichs hätten sich die unerschrockenen Weiber von Schiers im Prättigau die Ehre erworben, die Ersten zur Kommunion zu gehen. Zernetz ward von Baldrian wie die übrigen Ortschaften niedergebrannt. In mehreren Gemeinden des Unterengadins pflegt man bei drohendem Morgenreife in der Nähe blühender Roggenfelder Feuer anzumachen, um durch den Rauch die Gewächse zu bewahren. Eine solche Räucherung benutzte eine Frau von Zernetz im Schwabenkriege, um herangeschlichene deutsche Kriegsvölker glauben zu machen, sie sei ein Zeichen für die herbeizurufende Hülfe der Bündner und Eidgenossen. wodurch jene zum Umwenden bewogen wurden. Aehnliche Erinnerungen wiederholen sich überhaupt auf dem Boden der Schweiz ungemein häufig. Die Natur des Landes und der Bewohner erklärt dies. Jene drängte große welthistorische Ereignisse wie sonst nirgendswo oft auf engstem Raume zusammen, und dieser Umstand mußte wieder die Anforderungen an die Kraft der Einzelnen erhöhen. Die Eidgenossen, wie sie am doppelt heißen Tage von Sempach mit nackten Armen gegen die vom Eisen geschützten Ritter des Herzogs Leopold siegreich, bei St. Jacob gegen die Armagnaken wenigstens glorreich kämpften, so zu sagen arbeiteten, sind mir immer als das treueste Bild individuellsten Muthes und persönlichster Tapferkeit erschienen.

Wir hätten von Zernetz an uns eines der hier gebräuchlichen Einspänner bedienen können, da der nur zweimal wöchentlich gehende Postwagen, übrigens auch nichts weiter als ein etwas größerer Berg- oder sogenannter „Hotzelwagen “ (wahrscheinlich bezeichnend von hutzen, rütteln und schütteln), nicht in unsere Tour fiel. Aber der Anblick dieser Wagen und die Erinnerung des Weges konnte von diesem Gedanken nur abschrecken. Zwar hält der Engadiner, überhaupt von so besonderer Vorliebe für das Althergebrachte, daß er sogar, ohne Arges dabei zu denken, Pfarrstellen durch vier und fünf Generationen ungestört von Vater auf Sohn übergehen läßt, erstaunlich viel auf seinen kleinen Wagen, und dieser ist aus nur zu naheliegenden Gründen, wegen der entsetzlichen Straße, auch höchst solid gebaut – aber er zerbricht doch nur zu oft seine breiten niedern Räder an den kopfgroßen Steinen des Weges, deren sonstige Unberührtheit gleichfalls zu den durch die Jahrhunderte geheiligten Gegenständen zu gehören scheint. Auch die am Vorderwagen unbeweglich befestigte Deichselgabel erweckt nicht eben einladende Gedanken weicher, elastischer Bequemlichkeit; und so ist denn dem Wanderer in den meisten Fällen jenes bequemste und zugleich wohlfeilste Fortbewegungsmittel zu empfehlen, das er in seinen eigenen Beinen besitzt. Versuchsweise mag er sich auch einmal mit einem solchen Fuhrwerk befassen, und, wenn er will, selbst sich nach Art der alten fränkischen Könige, von einem Engadiner Ochsengespann fahren lassen, obgleich es nicht an einigen Pferden fehlt, die für den Personentransport und die geringe Waarenausfuhr bestimmt sind. Nur Esel sind so selten,

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 237. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_237.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)