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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

Landsmann überlassen, um mit dem Ertrage seiner Arbeit sich im Heimathsdorfe ein stattliches Haus zu bauen und die letzten Jahre, die sonst „den Menschen nicht gefallen,“ in achtbarer Ruhe zu genießen.

Die meisten dieser industriösen Wanderer bringt das Engadin hervor, dieses eigenthümliche und noch so wenig gekannte Längenthal, die Wiege des Inns bis zu seinem Austritte aus der Schweiz bei Martinsbruck. Es ist ein merkwürdigen Ländchen dieses Engadin! Wie eine stille heimliche Alpenmatte liegt es zwischen seinen beiden Gebirgszügen; der zahlreiche Fremdenzug, den die verschiedensten Triebfedern, Erholung von anstrengender Arbeit, Stärkung, Ueberdruß städtischen Getümmels, Langeweile und Mode, dazwischen auch Freude an einer reichen großartigen Natur und wissenschaftlicher Drang, in und durch die Schweiz locken, und der, wie die Ameise stets dem Wege folgt, den ihre Vorgängerin betreten, meist den Vorschriften des Reisehandbuchs folgt, läßt gewöhnlich seine tiefe Einsamkeit zur Seite liegen, dringt nicht in die verborgenen Thäler dieses Landestheils. Und doch findet für unsere Phantasie, unser Verstand, unsere Wißbegierde, unser Gemüth so reichen Stoff wie irgendwo; weht die frische Bergluft so rein, glänzen die hohen Felszinnen mit ihrem Firnenschnee, mit ihren Gletscherströmen rosig im Abendlichte, haben Natur und Geschichte der Bevölkerung einen so eigenthümlichen Stempel aufgeprägt! Aber bis zu 6000 Fuß erhebt sich dieses in solcher Ausdehnung höchste bewohnte Thal der Alpen, eine der höchsten Gegenden Europa’s überhaupt, die noch in großen zusammenhängenden Dörfern bewohnt werden; und da schreckt vielleicht des Engadiners eigene etwas übertriebene Aeußerung von seinem Klima: „Neun Monate Winter, drei Monate kalt.“ Freilich fehlt auch mit wenigen Ausnahmen der Comfort der vielgefeierten Punkte, wo die Reiseindustrie ihre Blüthe getrieben: keine mit allen Bequemlichkeiten des verwöhnten Geschmacks ausgestattete Hotels und Pensionen nehmen uns auf; keine in allen Zungen redenden Kellner umkreisen uns; aber auch der Schwarm zudringlicher Führer, die wandernde Virtuosenschaft, die Verfolgung mit gemalten Aussichten, mit geschnitzten tausenderlei Kleinigkeiten, mit dem Gesteine der Alpenwelt ist zurückgeblieben.

Schloß und Dorf Tarasp im Engadin Thale.

In das hohe, nach allen Seiten abgeschlossene Alpenthal des Engadins tritt der Wanderer von der Schweiz und Italien aus entweder von der gewaltigen Bergmasse des Bernina her, dessen von Firnen und Gletschern umgebene Hörner sich bis zu 12,000 Fuß über die Meereshöhe erheben, ja in dem Monte Rosso du Dentro, dem Montblanc des Engadin, bis über 13,000 Fuß ansteigen sollen, auf der schönen Julierstraße, die nach Chiavenna führt, oder durch einen der zahlreichen an und in die Schneeregion reichenden Pässe, welche von Graubünden oder Veltlin her die hohen, vielfach eingeschnittenen Seitenketten des Thales übersteigen. Ist man über einen dieser Pässe gestiegen, befindet man sich in dem bedeutendsten und ausgedehntesten Hochland Europa’s; die Schweizeralpen bieten keine zweite gleich ausgedehnte Erhebung. Um die kleinen wunderbar grünen Seen von Sils und Silvaplana dehnt sich eine Hochfläche von fast 6000 Fuß Höhe, und von da fällt das 15 Stunden lange Thal, in dem der Inn sich sein enges Bette gegraben, nur um einige tausend Fuß. Wo er bei Martinsbruck sich das Thor nach Tyrol gebrochen, eilen seine hellgrünen Wasser noch immer 3800 Fuß über dem Meere dahin. Diese Abgeschlossenheit des hohen Alpenthales, der Mangel an großen Verbindungsstraßen, die stille Großartigkeit der Umgebung haben ihm einen so eigenthümlichen Charakter aufgeprägt, daß man sich, ob man von dem übrigen Graubünden aus oder von der südlichen Natur Veltlins in dasselbe getreten, in einer Welt neuer niegesehener Wunder zu befinden glaubt.

Der Oktober des verflossenen Jahres hatte es mit so verspäteten Reisenden, wie wir beide, ich und mein trefflicher Künstler, es waren, ungewöhnlich wohl gemeint. Nur bei solcher Gunst des Himmels allein durften wir aber auch hoffen, von den rauhen Schönheiten des Engadins noch einen gütigen Blick zu erhalten, während wir anderntheils darauf gefaßt waren, uns jeden Augenblick von der Kälte und dem Schnee der hier schon für sehr

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verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 236. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_236.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)