Seite:Die Gartenlaube (1854) 222.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

Das Mikroskop.

Wir haben wohl schon Manches von den hundertfachen Vergrößerungen der kleinsten Thierchen und Stäubchen gehört und gesehen, ohne uns recht um das Instrument zu bekümmern, durch welches mehr Geheimnisse der Natur offenbart, und dem menschlichen Geiste wie dem praktischen Leben mehr Vortheile und Genüsse zugänglich geworden sind, als durch ganze Hunderte anderer Erfindungen.

Auch der Sachverständige wird sich freuen, zusammengestellt und zu Gemüthe geführt zu finden, was dieser „Kleinseher,“ wie man das griechische Wort Mikroskop übersetzen müßte, schon Alles geleistet und welch ein gewaltiges Civilisations-Instrument er ist und erst werden mag, wenn des großen Naturkundigen, Sir Isaac Newton’s Prophezeihung, daß das Mikroskop auf dem Tische jedes gebildeten Menschen stehen werde, sich erfüllt haben wird.

Freilich wir sind noch lange nicht so weit, aber doch stark auf dem Wege. Der kleinste Bauer, die Hausfrau mit dem knapp zugemessenen Wirthschaftsgelde werden einmal einsehen, daß sie mit dem Mikroskop mehr Korn bauen und besser wirthschaften können als mit bloßen Augen.

Das Mikroskop kann in seiner Bedeutung getrost neben die Buchdruckerkunst, die Dampfkraft und die Elektricität gestellt werden. Wie Talleyrand einmal zu Napoleon sagte: „Sire, heut zu Tage ist die Buchdruckerpresse stärker als eine Armee,“ kann man beweisen, daß das Mikroskop in der Geschichte der Bildung stärker zieht, als 100 Dampfschiffe mit 10,000 Pferdekraft.

Aber freilich, um diese Kraft zu bekommen, muß es erst popularisirt und die Prophezeihung Newton’s im weitesten Sinne erfüllt werden. Es muß heraus aus der räthselhaften Studirstube des Physikers, Chemikers, Botanikers u. s. w. auf den breiten Markt des Lebens und eben so häufig gekauft und ausgebessert werden, als Taschenuhren. Man verkaufe zur Noth die Uhr und verschaffe sich dafür ein Mikroskop. Jeder Mensch kann uns jetzt sagen, welch’ Zeit es ist, aber Wenige wie man durch einen mikroskopischen Blick in die erhabene Unendlichkeit des wirklich Unsichtbaren der Zeit vorauseilen und dem Menschenwohle im Großen auf die Beine helfen kann. Das Mikroskop muß heraus vor die Augen der Menge, die bisher größtentheils vor den Geheimnissen der Natur stehen, und nachdem sie 50 Jahre lang Kartoffeln gegessen, noch nicht einmal wissen, was eine solche ist und enthält; sie müssen in’s Innere der Natur dringen und sich nicht mit dem großen Naturphilister Haller, der schon glücklich mit der äußern Schale war (sie ist übrigens nach Goethe ganz richtig, „weder Kern noch Schale, sondern Alles mit einem Male“), begnügen, sondern ihr Herz im Kleinsten pulsiren sehen und ihre zerlegten Gebilde verstehen lernen. Mancher sonst brave, gebildete Mann mag hier wohl sagen, ja, wo soll ich die Zeit zu solchen Kleinigkeiten hernehmen? Ist's nicht schon genug, wenn ich Zeitschriften halte, welche mir 600fach vergrößerte Abbildungen von Infusorien, Blutkügelchen, Mehlstäubchen u. s. w. bringen? Darauf ließe sich wohl zunächst mit einer andern Frage antworten: Wo nehmen Sie die Zeit her, um Abende über den Durst zu trinken und über den Appetit zu rauchen, über die Zeit auszubleiben und früh über die Zeit zu schlafen? Und im Ernste: „Wissen ist Macht,“ wie ein alter Philosoph (Bacon) sagt, und mikroskopisches Wissen gehört mit jedem Tage mehr zur allgemeinen Bildung und wird mit jedem Tage nützlicher, praktischer, unentbehrlicher in Industrie und Handel, und sei es nur, um die Frau, die von allen Seiten von verfälschten Artikeln umgeben ist, vor Betrug zu schützen. Das Mikroskop ist in vielen Fällen das einzige sichere Mittel, die schöne, echte Leinewand, der Stolz und die Freude jeder gebildeten Hausfrau, von den Geweben zu unterscheiden, die sich mit Baumwolle oft auf die versteckteste Weise gemein gemacht haben. Und wie oft muß der kostbare Lebensfaden des Seidenwurms, der in so eigenthümlich klangvoll rauschenden Gewändern die schöne Tochter bei feierlichen Gelegenheiten umwallen soll, sich zum Heiligenschein für das Produkt des wollhabenden Schafes hergeben? Der liebende Gatte, der hoffnungsvolle Anbeter bedenke, daß Seide mit Wolle oder Baumwolle die süßesten Hoffnungen vernichten kann, und das Echte gewöhnlich nur noch unter dem Mikroskop sich als unzweifelhaft ehrlich legitimiren kann. Ich erwähne noch die Milch und Sahne, welche letztere früher einmal aus verdünnter Milch mit zerquirltem Briefpapier (worin gewöhnlich etwa Arsenik ist) componirt wird. Nur unter dem Mikroskope noch lassen sich die unzähligen Verfälschungen von Lebensmitteln, Verbrauchs- und Luxusartikeln sicher erkennen. Man wird also leicht einsehen, daß das Mikroskop nicht nur sehr gesund ist, sondern auch viel Geld und Verdruß sparen, eben so die Leute zwingen kann, ehrlich zu handeln.

Ein Gelehrter von Fach in diesem Fache sollte sich die Mühe nehmen, die Kennzeichen des Echten und Unechten, wie sie sich unter dem Mikroskope darstellen, durch alle Grade und Pfiffe von Verfälschungen zu verfolgen, in Wort und Bild deutlich darzustellen und so das eigene Interesse der Menschen für das Mikroskop aufregen.

Mit der Zeit wird dann wohl auch der unendliche wissenschaftliche Werth dieses Instruments allgemein bekannt und anerkannt. Hier nur einige Andeutungen. Oken, der große Naturforscher, nennt das Mikroskop die Wurzel und Miene der Naturgeschichte, besonders der Physiologie, d. h. der Erkenntniß des Geheimnisses: Leben.

„Daß ich erkenne, was die Welt
Im Innersten zusammenhält!“

Oken erkannte zuerst durch das Mikroskop die jetzt durch die ganze civilisirte Welt anerkannte Thatsache, daß alles organische Leben ursprünglich aus unendlich kleinen Zellen oder Bläschen bestehe, welche durch ihre Umdrehungen Wachsthum, Wärme, Gestalt und Farbe und Form bedingen und sich aus Luft, Licht, Wasser und elementaren Stoffen ernähren und vermehren. Daraus schloß und erschloß man weitere Geheimnisse des Lebens und gründete darauf die Physiologie, ohne welche es kein Wissen der Natur, keine Erkenntniß und Heilung von Krankheiten mehr giebt. Daraus ging eine vollständige Reform aller Naturwissenschaften und ein durch und durch tieferes Princip des Forschens, Erkennens und Wissens hervor. Ehrenberg entdeckte und classificirte durch das Mikroskop eine ganz neue Welt von Millionen und Billionen Wesen, die zum Theil an einem einzigen Sandkorn so viel haben, wie wir an unserer ganzen Erde. Der Leser kennt sie unter dem allgemeinen Namen Infusorien. Ganze Berge, Gegenden und halbe Länder stellten sich als Leichen von Infusorien (als deren Schildpanzer) dar. Roßmäßler’s „Blicke in den Bau der Pflanzen,“ Schleiden’s „Leben der Pflanzen,“ viele Werke von Klenike und Müller, Liebig’s „Chemische Briefe,“ Moschelett’s „Nahrungsmittel der Menschen,“ A. v. Humboldt’s „Kosmos,“ Burmeister’s und anderer Meisterwerke, besonders medicinische mit ihren Entdeckungen und Heilungen wären ohne das Mikroskop nicht möglich gewesen. Die Kartoffel-, die Traubenkrankheit, die Cholera, die Gicht und andere Würgengel unter Pflanzen und Menschen lassen sich blos unter dem Mikroskop enthüllen und so beherrschen und vertreiben. Gerade die Krankheiten der Pflanzen kommen wohl größtentheils von Infusorien, deren Lebensweise sich blos unter dem Mikroskope beobachten läßt, so daß man einen Vertilgungskrieg gegen sie ausfindig machen kann, wie ein Arzt es bereits gegen die Krätzmilben gethan. Die Menschheit verdankt es dem Mikroskope, daß eine der hartnäckigsten Krankheiten jetzt in zwei Tagen geheilt werden kann. Aehnliche Entdeckungen wird man vermittelst des Mikroskopes für Pflanzen und Getreide machen. Es ist deshalb nicht zu viel verlangt, daß der Bauer mit dem Mikroskop umgehen lerne, wie die Gärtner in England, besonders um London herum, wo jedes Stückchen Land so groß wie eine Goldmünze jedes Jahr so viel wachsen lassen muß, als die Goldmünze werth ist. Wahrscheinlich ist der vortreffliche Artikel „Household words“ über die Londoner Markt-Gärten schon übersetzt worden. Wir verweisen Jeden, der für ein Stückchen Erde zu sorgen hat, darauf, damit er sehe, wie man hier vermittelst der Wissenschaft und des rührigsten Fleißes mehr Gold aus der Erde zu treiben weiß, als die Goldgräber Australiens und Californiens. Daß die Natur-Erkenntniß in der Unendlichkeit des Kleinen eben so veredelnd und bildend, so erhebend und reinigend

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 222. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_222.jpg&oldid=- (Version vom 4.5.2020)