Seite:Die Gartenlaube (1854) 205.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

seinem Herzen, er hörte fast die Schläge desselben, und seine Stirn brannte fieberheiß. Einem Gesetz Unterthan zu sein, das für Schufte gemacht war, die Verpflichtungen übernahmen, die sie nicht lösen konnten oder wollten, das schien ihm eine zu grausame Aufgabe. Man wußte, daß er der Stadt nie zur Last fallen würde, und dennoch wies man sein Gesuch ab; man wußte, daß er sein Ehrenwort als Mann verpfändet, und dennoch hieß man ihm sich die Sache aus dem Sinne schlagen. Wer konnte ein solches Opfer von ihm begehren? Wer ihm zumuthen, mit einem solchen Makel an seiner Ehre noch unter den Lebenden zu wandeln? – Ja, hätte noch das kalte Gesetz mit seinem todten Buchstaben allein ihm gegenüber gestanden, so möchte er sich gesagt haben: ich leide nur, was Hunderte vor mir vielleicht schon litten, was Hunderte nach mir noch leiden werden, ich bin nur Einer von so Vielen, was berechtigt mich hier die Ausnahme zu sein? Aber so! Einem Menschen gegenüber, der sein Freund war, einem Menschen gegenüber, der hier die Autorität besaß, die ihn ermächtigte, das Gesetz den Umständen gemäß in Anwendung zu bringen, und von diesem Menschen verhöhnt werden, nein, das überstieg jede Grenze dessen, was er als Mann dulden und ertragen durfte! „Sein oder nicht sein,“ rief es in ihm und hastig erhob er sich und stürzte zur Thüre hinaus.

Es hatte bereits neun Uhr geschlagen, als August in dieser aufgeregten Stimmung in die Wohnung des Bürgermeisters trat. Auf dem Flur begegnete ihm der Stadtdiener, der eben seine letzten Befehle einholen wollte; er eilte an diesem vorbei in das Arbeitszimmer des Herrn vom Hause, und fand denselben behaglich auf dem Sopha ausgestreckt, dabei große Wolken aus einer ellenlangen Pfeife von sich blasend.

„Nun, wieder vernünftig?“ rief er ihm entgegen. „So setze Dich und wir wollen eine Flasche Wein miteinander ausstechen.“

„Davon kann keine Rede sein,“ versetzte August finster, warf seine Mütze auf den Tisch und blieb mit verschränkten Armen vor dem Andern stehen „Du oder ich, einer von uns muß bleiben. Ich fordere Dich im Namen der Ehre, der wir alle huldigen. Du hast mich beschimpft, hast den Menschen und den Freund in mir beleidigt und mußt mir mit den Waffen in der Hand Satisfaction geben. Nenne mir Zeit und Stunde, wo Du mich treffen willst. Auch die Wahl der Waffen bleibe Dir überlassen!“

„Ha, ha, ha!“ lachte der Bürgermeister in sich hinein und sein Auge drückte dabei mehr noch aus wie spaßhaft ihm die Scene erscheine, als seine Mienen es sagten. „Jetzt bist Du doch ganz toll geworden, Liebig. Wenn ich mich mit allen Einwohnern der Stadt duelliren sollte, weil ihnen der Ausspruch der Gesetze nicht genehm, so hätte ich viel zu thun. Da würde bald Niemand mehr Bürgermeister sein wollen. Nein, alter Junge, so haben wir nicht gewettet! Keinen Tropfen Bluts soll uns die Sache kosten. Wenn Du aber vernünftig sein willst, und mit mir reden wie ein Mensch der seine fünf Sinne hat, so setze Dich zu mir und ich lasse eine Flasche Hochheimer darauf gehen, aus bloßer Freude, daß Du nicht mehr toll bist.“

„Solger, reize mich nicht!“ sprach der Andere mit zusammen gekniffenen Lippen und seine Zornesader schwoll. „Ich bin nicht in der Stimmung, wo man Scherz verträgt, ich bin wie ein gereizter Löwe, ich bin fähig einen Mord zu begeben.“

„Was, steht es so?“ sagte der Bürgermeister stirnrunzelnd und schien erst jetzt zu bemerken, wie geisterbleich sein Freund aussah und welche finstere Gluth aus seinem Auge leuchtete. „Wenn Du so sehr im Ernste bist, da muß auch ich die Sache wohl ernst nehmen. Mit mir geht es aber nicht so schnell, mein Blut fließt langsamer. In einer Stunde wirst Du meine Antwort in Deiner Wohnung finden. Gute Nacht, bis auf Wiedersehen.“ Er winkte ihm wie verabschiedend zu, worauf August seine Mütze ergriff und ohne noch ein Wort zu verlieren, das Zimmer verließ. Als seine Schritte verhallt waren, rief der Bürgermeister: „Schlünz!“ und augenblicklich trat der Stadtdiener ein, der draußen so lange geharrt hatte.

„Hören Sie, Schlünz?“ sagte er, und blies drei mächtige Puffe aus der Pfeife, um sie vor dem Ausgehen zu sichern, „der Candidat Liebig scheint mir krank zu sein; wir dürfen ihn nicht allein lassen. Bestellen Sie zwei Mann Wache vor seine Thüre, die ihn, bis auf weitere Ordre, verhindern, sein Zimmer zu verlassen, und dann bitten Sie Doctor Friedrich, sogleich zu mir zu kommen.“ Damit war der Auftrag zu Ende und das Oberhaupt der Stadt rauchte behaglich fort, bis der Arzt eintrat.

„Setzen Sie sich, lieber Doctor, und entschuldigen Sie, daß ich nicht aufstehe; ich bin verwünscht müde. So eine Entenjagd fühlt man!“ redete er den Eintretenden an. „Ich habe Sie noch so spät herbitten lassen wegen des jungen Liebig, der nahe daran scheint überzuschnappen. Thun Sie mir den Gefallen und gehen Sie gleich von hier zu ihm mit der Botschaft, daß ich ihn wie krank, oder schlimmer noch wie verrückt behandeln müsse, so lange er solchen Unsinn schwatze. Ich gäbe ihm drei Tage Zeit zur Ueberlegung, ob er sich die verwünschte Heirath aus dem Sinne schlagen und mich mit seinen Herausforderungen in Ruhe lassen wolle: oder wenn nicht, würde ich ihm die Conzession entziehen, sich hier aufhalten zu dürfen, und gehe er nicht gutwillig, so würde er aus dem Thore gebracht. Das letztere sagen Sie ihm aber nicht gleich, denn er ist ein verteufelter Kribbelkopf, der sich Alles zu Gemüthe zieht. Wir wollen es daher mit Güte versuchen. Verordnen Sie ihm auch etwas Niederschlagendes. Er hat für’s Erste Hausarrest.“

August erwartete nichts weniger als eine solche Botschaft, die ihm der Arzt, ein besonnener, wohlwollender alter Herr, mit großer Schonung überbrachte, und dabei zugleich an seinem Pulse sah, daß der junge Mann wirklich nicht in dem Zustande war, um für zurechnungsfähig erklärt werden zu können. Er blieb lange bei ihm, und seinem milden, beruhigenden Zuspruche gelang es, daß August das Bett suchte und unter dem Einfluß eines leichten Opiats auch Ruhe fand.

Als er am nächsten Mittag erwachte, fühlte er sich wirklich unwohl und wie betäubt, so daß er das Bett nicht verlassen konnte und der Arzt, der häufig nach ihm sah, erhielt ihn gerne in diesem Zustande, um ihm Zeit zu lassen, sich mit mehr Ruhe in seine Lage hinein zu denken und einen vernünftigen Entschluß zu fassen. Er suchte ihn zu bewegen, sich ihm mitzutheilen, wohl wissend, wie erleichternd schon das ausgesprochene Wort wirkt und war bereit, ihm auch auf irgend einem vernunftgemäßen Weg mit Rath und That zur Seite zu stehen. Er begriff, daß dem jungen Manne sein Ehrenwort oder gar ein Eid etwas Heiliges war, und daß der ganze Stolz seiner edeln Natur sich dagegen bäumte, sein Versprechen nicht halten zu können. Vielfach überlegten Beide, wie sich ein Ausweg finden lasse und immer noch bot sich kein solcher; da brachte die Post einen Brief, der alle Zweifel löste. Leonie schrieb:

„Du forderst Deinen Ring zurück, mein theurer Freund! Die Bitte, verzeih es mir, war thöricht. Soll ich Dich weniger achten, weil Du meiner Mutter ein Versprechen gabst, das zu halten die Gesetze des Landes Dich verhindern? Wo war Deine Einsicht, wo Deine ruhige Besonnenheit, als Dir die Grenzlinie zwischen Wollen und Können verloren ging? – Du lieber, lieber Brausekopf, dessen stolze Ehrliebe den Himmel stürmen möchte, und dem diesmal die Erde dabei unter den Füßen entschlüpfte.

„Aber wir kennen Dich, Deine theure Mutter und ich; wir wissen, daß keine Worte, keine Gründe, keine Unmöglichkeiten diesen Makel an Deiner Mannesehre in Deinen Augen verwischen könnten, und eben weil wir Dich so kennen und Beide Dich auch so lieben, eben darum mußt Du meiner Mutter Dein Versprechen halten. So komme denn, und gieb mir das Recht, Deinen lieben Namen zu führen. Eine Dispensation dazu wird bereit sein und Dein Bruder sein Amen dazu sprechen. So komme denn und erfahre, wie wir Dich lieben! Denn damit Du Dir selbst getreu bleiben könntest, haben wir den langen, langen Hoffnungen und Plänen für die Zukunft ein ewiges Lebewohl zugerufen und beschlossen. Dich zu entbehren, auf Länge zu entbehren, damit Du einst froh in unsere Mitte zurückkehrest. – Eine kleine Gesellschaft junger Leute in Hamburg segelt ab nach St. Francisco, um sich dort eine neue Heimath zu gründen; der Sohn unseres hiesigen Oberamtmanns ist von der Zahl, und er wartet nur auf Dich, um aufzubrechen. – Komm also! Wo Du bist, konntest Du jetzt nicht mehr bleiben, komme also! Weile eine Stunde unter uns, und welch eine Stunde in unserm beiderseitigen Leben! und ziehe dann hinaus in die weite Welt, wo ein Mann, befähigt wie Du, eine Existenz finden wird und finden muß.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 205. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_205.jpg&oldid=- (Version vom 24.11.2016)