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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

ihm somit rascher dahin, als er erwartet hatte und der Tag seiner Abreise von hier rückte ganz nahe heran. August ersuchte nun Frau von Rabenhorst ihm eine Stunde zu bewilligen, in welcher er in ihrer Gegenwart die Knaben prüfen dürfe, damit sie sich überzeuge, in wie weit er seine Lehrerpflicht getreulich erfüllt. Sie lächelte gnädig zu diesem Vorschlag und bestimmte gleich den folgenden Morgen. Diese Einwilligung war August sehr erwünscht. Es drängte ihn, ihr zu beweisen, daß er den Lohn gewiß verdient, den man ihm hier gewährte, und daß er weit eher als Gläubiger, wie als Schuldner scheide. Sein Vertrauen fand sich gerechtfertigt, die Mutterliebe siegte über jede kleinliche Rücksicht und Frau von Rabenhorst gestand ihm zu, daß er ihre Erwartung bei weitem übertroffen. August verbeugte sich mit einem weit artigeren Lächeln, wie sie es je an ihm gesehen.

„Wie schade!“ fügte sie hinzu, „daß ein so vortrefflicher Lehrer eine so democratische Erziehungsmethode befolgen will! Unsere Söhne hätten sonst unter Ihrer Leitung schöne Kenntnisse erwerben können.“

„Ich hoffe mehr als das, gnädige Frau!“ erwiederte er heiter angeregt, mit mehr Worten, als er sonst hier zu wechseln sich zum Gesetze gemacht. „Ich hätte Männer aus ihnen gebildet, und wirkliche Gentlemen, wie der Engländer sagt, wodurch sie in ihren Verhältnissen weit mehr nutzen konnten, als durch Büchergelehrsamkeit.“

„Gentlemen, sagen Sie? Warum sprachen Sie davon nicht früher. Das war ja gerade mein Wunsch, meine Söhne in diesem Genre heranzubilden.“

„Ich konnte das nur, wo das Geschäft des Erziehens ganz in meine Hand gelegt war, und die Aeltern mir völliges Vertrauen schenkten.“

„Das hätte Ihnen werden können, Herr Liebig. Ich werde noch heute mit meinem Gatten darüber sprechen.“

Sie entfernte sich, ohne das spöttische Lächeln zu bemerken, das um August’s Lippen spielte. „Jetzt weiß ich, was der Engländer unter „Unterrocks-Regiment“ versteht,“ dachte er bei sich. „Wenn sich die Männer von solchen Weiberlaunen lenken lassen, so könnte man ihnen den Spinnrocken dazu wünschen. Welch eine ganz andere Frau ist doch meine Mutter und gar erst Leonie.“

Wenige Tage darauf zog er in Mücheln ein, wo ihm der Bürgermeister Solger bereits eine Wohnung besorgt hatte, und schon am folgenden Montag seine Stunden ihren Anfang nahmen. August war zu Muthe wie Jemand, der eine Gefangenschaft durchgemacht hat. Trat er hinaus auf die Straße nach vollendetem Tagewerke, so erschien ihm Alles so schön, der Himmel, die Erde, die Menschen, denn das Gefühl seiner persönlichen Freiheit lieh hier den neuen Reiz. Die Bewohner der Stadt waren froh, einen so schönen, fein gebildeten jungen Mann in ihrem Kreise zu sehen, die Mütter speculirten auf ihn für ihre Töchter und die Töchter verfolgten ihn mit zärtlichen vielsagenden Blicken. Aber August blieb davon unangefochten. Leonie war ihm das Ideal aller Frauen, und diese unbedeutenden Wesen, deren Leben sich um Putz und Bälle drehte, konnten freilich einer Leonie nicht die Hand reichen. Er hatte zu deren Erstaunen kaum ein artiges Wort für sie.

Sonderbar befremdend war es den Bewohnern der Stadt, daß der junge Candidat nie gepredigt hatte. Bei manchen Gelegenheiten dazu aufgefordert, lehnte er diese Pflicht stets mit artigem Danke ab, versichernd, daß er sich noch nicht dazu berufen fühle, seinen Mitbrüdern Worte der Ermahnung zuzurufen.

„Du solltest Dich doch einmal darin versuchen, Liebig!“ sagte sein Freund, der Bürgermeister häufig. „Hier in der Umgegend sind prächtige Pfarren, da könnten wir Dich präsentiren. Oder hast Du etwa auch, wie so viele, Zweifel über die Erbsünde?“ fügte er lachend hinzu.

„Das kann wohl sein, mein guter Solger!“ versetzte August ernst. „Jedenfalls bin ich noch nicht im Klaren mit mir selbst, werde vielleicht auch noch lange nicht dahin kommen, und bis dahin will ich mich des Predigens enthalten.“

„Das ist aber eine verfluchte Geschichte! Was soll da aus Deiner Zukunft werden?“

„Nun! Was schon daraus geworden ist; ein tüchtiger Lehrer.“

„Alles recht gut, aber es nährt seinen Mann nicht. Es ist keine sichere Versorgung. Ich rathe Dir, laß die Grillen sein! Viele Wege führen nach Rom. Drücke ein Auge zu und die Sache geht.“

August schüttelte verneinend den Kopf. „Ich darf nicht,“ sagte er. „Für mich giebt es nur einen Weg, den geraden.“

Zum Osterfeste reiste August zu seiner Mutter, die, seit er die Universität verlassen, ihre Schule aufgegeben hatte, theils weil sie fühlte, daß sie der Anstrengung nicht mehr gewachsen war, theils auch, weil Leonie, indem sie den doppelten Pflichten einer Krankenwärterin und Lehrerin genügte, zu sehr angestrengt wurde. Sie übergab daher das einmal eingerichtete Erziehungsinstitut einer andern Hand, und behielt sich nur vor, mit ihrer jungen Freundin abwechselnd einige Stunden darin zu ertheilen, um jener auf diese Art die Mittel zu sichern, ihrer Mutter manches zu ihrer Pflege verschaffen zu können, wozu deren kleine Einnahme sonst nicht hinreichte. Für ihre eigenen Bedürfnisse reichte ihre Pension als Predigerwittwe schon zu, denn ihre Ansprüche waren sehr bescheiden, und nur wenn der geliebte Sohn als Gast bei ihr weilte, sann sie auf einen Aufwand, der ihrer kleinen Einrichtung sonst fremd war. – Sie hielt ihn jetzt einmal wieder in ihren Armen, und musterte mit freudetrunkenen Blicken sein gutes Aussehen. Sein Tritt war fester, sein Auge leuchtender, seine Züge männlicher, als wie sie ihn zuletzt vor sich gesehen. Er fühlte sich glücklicher, sie konnte nicht daran zweifeln, und ihr Herz floß über von Dankgefühl, den theuern Sohn in einer Lage zu wissen, die ihn mit muthigerem Blicke in das Leben schauen ließ.

„Es ist Aussicht dazu, daß Dein Bruder versetzt wird.“ sagte sie, als sie am Abend um den Theetisch saßen und auch Leonie sich eingefunden hatte, eine Stunde des Glückes hier zu verleben. „Wilhelm meint, man könne Dich in Vorschlag bringen, vielleicht daß Du trotz Deiner Jugend die Pfarre aus Rücksicht für Deinen Vater erhalten würdest. – Das wäre viel Glück. August! Sollte ich das noch erleben, meine geliebten Kinder hier vereint zu sehen, so wäre die Freude fast zu groß für mich!“

August erblaßte vor diesen Worten und verließ seinen Platz, um, unruhig, einige Male im Zimmer auf und ab zu gehen. Leonie’s Blick folgte ihm fragend und besorgt. Aber schon hatte sie Alles errathen, was diese plötzliche Bewegung sagen wollte.

„Mutter!“ nahm er das Wort und setzte sich dabei wieder zu ihr, indem er zugleich ihre Hand ergriff, „erzeige mir die Liebe, mich nicht für die Pfarre in Vorschlag bringen zu lassen. Ein solches Amt paßt nicht für mich. Verzichte auf diesen Wunsch!“

„August!“ rief sie mit einem Tone des Schmerzes, der unbeschreiblich ist, und sah ihn mit erstauntem Blicke an; „dann hast Du ja keine Zukunft! Und was wird aus Leonie?“

Sein Auge senkte sich zu Boden, seine Miene wurde sehr ernst. „Es führen ja viele Wege durch das Leben, Mutter, und, dem Muthigen gehört die Welt.“

„August hat Recht, Mutter!“ nahm das Mädchen das Wort, das aus seinen Mienen zu lesen gewohnt war, und mit dem Instincte des Herzens seine Gedanken errieth. „Er ist noch viel zu jung, um schon unwiderruflich für seine Zukunft zu entscheiden. Das Leben muß den Mann erst reifen und entwickeln, bevor er sich einer endlichen Bestimmung hingiebt.“

„Das Leben bildet den Charakter, mein Kind!“ versetzte die Mutter, immer noch schmerzlich bewegt; „einen Beruf wählt der Mann aber nur einmal, seine ganze Erziehung und Bildung ist auf diese einmal getroffene Wahl angelegt, und das Verfehlte holt dann keine spätere Zeit mehr ein. Die wenigen Worte, die August gesprochen, sagen mir, daß Deine – daß seine Zukunft hoffnungslos ist.“

Sie verließ bei diesen Worten das Zimmer, weil sie fühlte, daß sie ihren Thränen nicht länger gebieten konnte. Alles vermochte diese Frau zu ertragen, nur nicht das Eine, das Geschick ihres Sohnes auf dieser Basis von Glas zu sehen, durch die sich der Abgrund spiegelte.

Als sie sich entfernt hatte, saßen August und Leonie sich eine Weile stumm gegenüber. Der junge Mann hatte die Hand über die Augen gedeckt, das Mädchen blickte auf die Arbeit in ihrem Schooße.

„Und Du zürnst mir nicht, Leonie?“ fragte er endlich, ohne sie anzublicken, und reichte ihr die Hand hinüber. „Du hast mich nicht aus bloßer Großmuth vertheidigt, nicht nur jene Worte gesprochen, um meine arme Mutter durch Deine Billigung zu beruhigen?“

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