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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

No. 11. 1854.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteur Ferdinand Stolle.
Wöchentlich 1 bis 1 1/2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 10 Ngr. zu beziehen.


Das liebe Geld!

Geschichte aus Englands Gegenwart. Von H. Beta.
(Schluß.)


Der Kuß, den er im Fortgehen auf ihre Hand drückte, erschreckte sie, sie fühlte, daß er heuchelte, aber aus heißen Thränen erhob sie sich doch noch mit der Hoffnung, daß sie ihn mit ihrem reinen Herzen noch erheben könne.

Die in der Gesellschaft so beneidenswerth hoch gestiegene und in ihrem Glücke so tief gefallene Lady Moretown sah jetzt bald ein Glück lächeln. Sie hatte ihren jetzt geschmeidigeren Herrn Gemahl vermocht, für den jungen „Erben“ einen Hauslehrer zu nehmen, und zwar einen „Deutschen“ von Geburt, wie es jetzt in vielen hohen Familien Sitte ist, die mit dem Hofe, wo das Deutsche Haus- und Familiensprache ist, in Verbindung stehen. Der Hauslehrer hatte sich zwar ohne glücklichen Erfolg mit der Erziehung des deutschen Volkes im Ganzen und Großen durch feurige Reden auf verschiedenen „freien“ Plätzen Deutschlands abgegeben, aber im Einzelnen gelang es ihm sehr gut, trotz seines beibehaltenen Schnurrbartes (übrigens in der Regel als Zeichen der „Fremdheit“ bei Hauslehrern gern gesehen) und seiner hinter englischen Ansprüchen weit zurückbleibenden „Wäsche.“ Jedenfalls war er Einer von denen, „die sich gewaschen haben“ und setzte gleich am ersten Abende seiner Thätigkeit den alten und den jungen Lord gründlich zurecht. Er bewies dem Alten, daß der Junge, der einmal zu befehlen haben werde, erst gehorchen lernen müßte. Dazu brauche er ein absolutes Strafrecht; auch müsse er die Erzieherin noch einmal erziehen, sonst mache sie’s wie Penelope mit ihrem Gewande, sie reiße über Nacht wieder entzwei, was er am Tage aufgebaut und zurechtgestutzt habe. Der hohe Lord stutzte und erhob sich in seiner Entrüstung hoch über die dienende Hauslehrerseele. Aber Dr. N. (N. steht für einen in Deutschland wohl noch nicht ganz mit Gras überwachsenen Namen) ließ sich durch diese Höhe und Größe von Dünkel nicht irre machen und frug nur einfach und entschieden, ob er hierhergerufen worden sei um Diener der Launen eines total verzogenen Knaben zu werden oder sein Lehrer zu Kenntnissen und gebildeter Männlichkeit? Ob er ihn zur Schande des Vaters oder zu dessen Ehre aufwachsen lassen solle?

Diese unerhörte Kühnheit und Entschiedenheit einem Lord gegenüber, der beim letzten Ministerwechsel beinahe Mitglied der neuen Regierung geworden wäre, wirkte gründlich, denn so verworfen war er als Vater nicht, um jetzt, da ihm die Augen geöffnet wurden, sein „Verhältniß“ zu Athalien über die Pflichten gegen sein Kind zu setzen. Dr. N. bekam seine pädagogischen Vollmachten und ließ sich kein Haar breit davon wiedernehmen, so oft auch die geistreiche Athalie ihn verklagte und so oft der kleine Erbe der Schöpfung auch eingesperrt war und blieb, selbst wenn der erhabene Vater die Drohungen und Thränen der Erzieherin durch einen stolzen Befehl unterstützte. Dr. N. bewies ihm jedesmal, daß der gebildete Vater in seiner Liebe und Pflicht das Wohl des Kindes nicht den augenblicklichen Gefühlen einer liebenswürdigen Französin, die nicht einmal richtig französisch spreche, opfern könne. Das unrichtige Französisch wurde ihr mehrmals bewiesen, obgleich sie das Gegentheil durch Drohungen mit den Nägeln und einige sehr malerische Krämpfe zu beweisen suchte. Kurz Dr. N. blieb fest und dadurch wandelte er das ganze Haus um. Der kleine Erbe liebte nach einigen Wochen nicht nur seinen Lehrer, sondern auch seine Stiefmutter und scholt auf die Erzieherin, so oft er sie sah: sie habe ihm so und so gesagt, und das sei nicht nur falsch, sondern auch schlecht und gemein an einem jungen Gentleman und er sei ein junger Gentleman und wolle auch noch ein älterer Gentleman werden.

Soerblühten für Lady Moretown in der Nacht ihrer trostlosen Einsamkeit wenigstens zwei Glückssterne: sie lernte die Liebe eines muntern, schönen Knaben gewinnen und ihn wieder lieben, außerdem fand sie in täglicher Unterhaltung mit Dr. N. dessen deutsche Stunde sie besuchte, manchen Trost und viele Ermuthigung. Er imponirte durch seine Freiheit von Vorurtheilen, welche die „gute Gesellschaft“ Englands oft wie ganze Reihen von Festungsmauern umgeben. Der wirklich gebildete Deutsche steht fast in allen Theilen der civilisirten Welt, wenigstens in gesellschaftlicher Beziehung, als der im Vergleich freieste Mann da und wußte sich deshalb bereits in aller Welt geltend zu machen, wie, außer den Juden, kein anderes Volk der Erde. Selbst der Engländer, der in allen Welttheilen und Häfen seine Bureaux und Schiffe hat, kommt nicht einzeln unter andern Völkern fort. Das kann blos der Deutsche.

Im Grunde genommen herrschte Dr. N. in dem stolzen Hauswesen des Lord Moretown und zwar offenbar über den Herrn des Hauses und seinen verschuldeten Ländereien am Meisten. Hinter dem Stolze des Lord Moretown verbargen sich Unwissenheit, Habsucht, niedrige Leidenschaften mancherlei Art und – Feigheit. Er fürchtete sich vor dem graden, ehrlichen, festen Wesen des Hauslehrers, dessen Wissen zugleich so gründlich und vielseitig war, wie es in England, selbst unter den Gelehrtesten, selten vorkömmt. Der Engländer wirft sich auch in der Wissenschaft, wie im Handel und Wandel, gern auf einen bestimmten, oft sehr beschränkten

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verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 115. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_115.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)