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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

Er versuchte aufzustehen, aber die schlotternden Füße trugen ihn nicht mehr, die Hebelkraft der alten ausgetrockneten Muskeln und Sehnen war durchschnitten, und auch die wüthend unterstützenden Hände knickten in den Gelenken, so oft als er sie brauchen wollte, zusammen. So zappelte und ächzte der alte Mann schaudererregend umher, bis er wieder aufheulte, sich zu Boden warf und wie ein fabelhaftes, vorsündfluthliches, krokodilartiges Thier nach dem Briefe hinkroch. Er zerriß ihn mit Hülfe der Zähne, da die Hände sich zu schwach erwiesen und schob sich auf die elendeste Weise umher, um wieder auf die Füße zu kommen. Vergebens. Die Schrecken des Todes überfielen ihn in ihrer gräßlichsten Gewalt und Gestalt und beschleunigten sein furchtbares Ende von Innen und Außen. Er heulte, fluchte und schäumte und warf die klappernden Glieder umher, als hingen sie gar nicht mehr zusammen und bot dann in schmeichelndem Tone dem Tode, den er in Person vor sich sah, eine bedeutende Summe, die er immer wieder steigerte, wenn Freund Hain still blieb. „Tausend Pfund, tausend Pfund baar!“ rief er, „wenn Du mich nur noch einen Tag leben läßt! Tausend Pfund, Freundchen, welch’ eine Summe. Nur noch einen Tag, einen einzigen Tag!“ Aber Freund Hain stand da vor ihm ruhig lächelnd von einem Ohre bis zum andern, unbeweglich, unbestechlich – erhabener wie Tausend christliche Diplomaten und Philanthropen, und immer weiter den ganzen Reichthum seiner Zähne zeigend, mit der Sense im Arme – die dem alten wahnsinnigen Greise so scharf erschien, daß er wieder aufkreischte und ihn frug, was er verlange, wenn er die Sense ablegte. Auch hier ließ er sich nicht bestechen. Und, so blieb er stehen und wartete ruhig, bis er die scheußlichsten Todesqualen ausgestanden und neben der durch Convulsionen entstellten Katze ruhig da lag wie ein liederlich durcheinandergeworfener Haufen menschlichen Gebeines.

Nur noch einmal kreischte er auf und schabte mit Händen und Füßen umher und horchte und heulte wieder und suchte mit dem letzten Funken entweichender Lebenskraft aufzuspringen. Er vermochte es nicht mehr.

Draußen rollten die Wagen in tausenderlei Gestalten und liefen die Menschen gierig hin und her. Jeder in die Luft starrend, als wenn er Goldstücken und Anstellungen in der Luft nachliefe, und die Häuser öffneten und schlossen sich und gekaufte und verkaufte Waaren und Güter und Lebensmittel drängten sich und wurden in allen Tonarten ausgeschrieen, und Ochsen- und Hammelheerden liefen wild und springend zwischen Rädern, Pferden und Menschen hindurch, Kinder und Weiber nach allen Seiten in die Flucht jagend und die Hunde, welche mit dem athemlosesten Eifer Ordnung machen wollten, zur Verzweiflung bringend, so daß sie oft in großer Rathlosigkeit ihre Herren anblickten, um zu sehen, ob sie ihnen nicht mit einem guten Rathe unter die Arme greifen könnten. Kurz London war wie gewöhnlich lebendig und schien kein Fleckchen zu haben in ganzer, endloser Ausdehnung, wo ein Mensch sich ruhig hinsetzen und einen Gedanken fassen könnte. Nur das eine Haus war und blieb ruhig. Schon Mancher war gekommen und hatte geklopft und geklingelt und die Thür angesehen und gewartet und war dann – wenn die Wagen einen Uebertritt gestatteten – auf die andere Seite gegangen, um die Fenster oben zu mustern und dann endlich mit beschleunigtem Geschäftsschritt davongelaufen. Im Laufe des Tages fiel das geschlossene Haus immer mehr auf. Der Magistrat erfuhr endlich, daß dort etwas „nicht richtig sein müsse“ und ließ von vereideten Personen im Beisein von „Aldermen“ die Thür öffnen.

Die beiden Todten und das Stückchen Butterbrot und die sonstigen Inventarien wurden zu Protokoll genommen und nach Wegschaffung der beiden Leichname das Haus amtlich wieder verschlossen. Lord Moretown – der sich als der einzige rechtmäßige Erbe herausstellte, ward amtlich von dem Ableben seines Schwiegervaters benachrichtigt und ihm anheimgestellt, über sein neues Eigenthum zu verfügen.

Die Wochenzeitungen brachten den Sonnabend darauf unter den stets reich vertretenen Rubriken: „Morde,“ „mysteriöser Mord,“ „erwiesener Mord,“ „grausamer Mord,“ „Ermordung einer Frau durch ihren Mann“ (drei- und viermal in jeder Nummer wiederkehrend) auch die mysteriöse Vergiftung des Nikolas Arden, eine sehr interessante Geschichte, da der Phantasie und der Detectiv-Polizei noch zu ermitteln übrig blieb, ob er sich selbst vergiftet habe, oder von seinem Diener Edward Johnson oder von seinem erhabenen Schwiegersohne, Lord Moretown, oder von einem Schuldner vergiftet worden sei. Edward Johnson war verhaftet aber bereits nach einigen Tagen wieder frei gelassen worden. Die Gerichts-Chemiker hatten in dem Magen der Katze Gift gefunden, in dem Magen des alten Mannes aber kein Gift. Das Gift, an welchem er zeitlebens litt und gestorben – wie viele andere christliche Mitbrüder – ein Gift, das neun und neunzig Procent der modernen Menschheit mehr oder weniger durchtobt, stellt sich auch durch den feinsten Proceß Liebig’scher Analysen nicht dem Auge dar.


Der edelmüthige Lord Moretown hatte sich der unglücklichen Ellen Arden mehr als Beschützer, wie als Anbeter dargestellt und in ersterer Eigenschaft war er auch so glücklich gewesen, ihr Herz zu gewinnen. Der alte Arden hatte den edeln Beschützer durchschaut und sah in ihm nichts, als den Räuber seines Geldes. Er wüthete über den Entschluß Ellen’s und bestärkte ihn dadurch nur. Da sie mündig war, konnte der Vater die Verbindung nicht hindern. Wir wissen, auf welche Weise er sein Geld zu retten suchte.

Die Flitterwochen dauerten kaum einige Tage. Lord Moretown war Wittwer gewesen und ließ seinen einzigen „Erben“ von einer jungen Französin erziehen. Der Erbe, ein Knabe von acht Jahren, ward seiner neuen Mutter vorgestellt, die ihn an ihr Herz drücken wollte. Der Junge wehrte sich und sagte trotzig: „Ich kann Dich nicht leiden. Du sollst mich nie küssen. Du sollst meine Mutter nicht sein.“ Vater und Erzieherin waren zugegen. Die neue Mutter fragte ihn, ob er sie nie lieben wolle, wenn sie recht gut zu ihm wäre. „Du sollst nicht gut zu mir sein!“ antwortete der Junge und lehnte sich trotzig an den Schooß der Erzieherin, welche darüber auf eine entzückende Weise lächelte. Die neue Mutter wandte sich an seinen Vater und bat ihn um Aufschluß über diese unerklärliche Abneigung. „Ist ein selbstständiger Charakter,“ sagte der erhabene Vater: „willst Du Deiner Mutter nicht die Hand geben, mein Kind?“ – „Nein, will nicht!“ Die Erzieherin lächelte noch entzückender und der Vater auch, die neue Mutter aber brach in Thränen aus, worüber sie von ihrem edeln „Beschützer“ gescholten ward, es sei eine Sentimentalität, die sich im Allgemeinen nur auf „niedere Kreise“ beschränke.

Dies war die erste Störung ihrer Flitterwochen, der erste Sturm der Enttäuschung, der so viele unschuldige, edle, weibliche Gemüther vernichtet und den Blumengarten ihrer Hoffnungen bald langsamer, bald rascher in Einöden verwandelt, aus denen oft kein späterer Frühling, kein segnender Sonnenstrahl einen grünenden Keim wieder zu erwecken vermag, besonders wenn ärgere Verwüstungen so rasch auf einander folgen, wie hier.

Die nächste Enttäuschung errathen wir aus einer häuslichen Scene. Es ist ein Glück für den Erzähler, daß er sie blos zu errathen lassen und nicht zu schildern braucht.

Eines Morgens kömmt der Beherrscher der unterirdischen Welt in englischen Häusern, d. h. der Koch, in das Frühstückszimmer, wo Lord und Lady Moretown ihren Thee nehmen und frägt nach dem heutigen Küchenzettel.

„Ist Alles gleich,“ sagte der Lord. „wir essen in Familie, meine Frau, Athalie und ich.“

„Mademoiselle Athalie, die Erzieherin?“ frug Ellen zitternd.

„„Natürlich, wer sonst?““

„In diesem Falle werde ich in meinem eigenen Zimmer essen!“ sagte Ellen zu dem Küchenmeister, der sich verbeugte und ging.

„„Wie Ihnen gefällig ist, Madame!““ versetzte Lord Moretown, scheinbar nachlässig.

„Und ich werde jedesmal auf meinem Zimmer essen, so oft „der Herr“ mit Mademoiselle Athalie speist,“ rief Ellen dem Küchenmeister nach.

„„Und was soll diese – diese Gemeinheit, Madame, in Gegenwart von Dienstboten? Fort mit Dir, Schlingel! Können Sie sich gar nicht in die Sitten der guten Gesellschaft schicken, Madame?““

„Meine Sitten hängen sehr mit Sitte zusammen, mein Lord! Diese zwingt mich, dafür zu sorgen, daß mir wenigstens die Achtung vor mir selbst bleibe, nachdem Sie aufgehört haben, Ihren Ruf in dem meinigen zu schonen. Sie haben mich in allen Dingen und in jeder Beziehung unterwürfig und nachgiebig

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