Seite:Die Gartenlaube (1854) 100.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

wär’ ich gar nicht unter die Hundert im Vogelbauer gekommen. Zu interessanten, wichtigen Sitzungen, wo eine bedeutende Abstimmung, ein interessanter Parteikampf, eine Rede von Palmerston oder Russel u. s. w. erwartet wird, ist der Zudrang „Bevorzugter“ so groß, daß ein Fremder mit’m Bart stundenlang unter einem königlichen Schutzdache auf Zutritt warten muß, um endlich zu hören, daß heute Niemand mehr eingelassen werden könne Dann kämpfen die Herren im Unterhause auch nicht mit dem Schlafe und Apfelsinenschaalen, sondern mit Reden, guten, oratorischen Reden, derben Angriffen und feinen Witzen und Pointen, dann werden dort Wahrheiten und gewichtige Worte in die Öffentlichkeit geschleudert, wie in keinem andern Saale Europa’s, und die Zuhörer beweisen durch häufiges hear! hear! oder Gelächter oder „Groans“ oder Beifallsgetrommel ihre lebhafte Theilnahme.

Im Ganzen genommen entwickeln aber die beiden Herzkammern der englischen Gesetzgebung wenig Ernst und Würde. Es geht ein eigenthümlicher Zug von Ironie und Phrase durch alle Verhandlungen, der von viel Bildung und Freiheit Zeugniß giebt, zugleich aber von dem geheimen Bewußtsein, daß wohl Dieser und Jener hinter den schönsten Perioden und erhabendsten Schwingungen seiner Beredtsamkeit doch nur sein eigenes Interesse gegen die Ansprüche Anderer geltend zu machen sucht. Vielleicht habe ich das Vergnügen, Ihnen nächstens schon eine interessante wichtige Sitzung schildern zu können, einstweilen sende ich Ihnen das Portrait Palmerstons, des vielbelobten und vielgeschmähten Lord Feuerbrands, dessen wahrheitsgetreue und parteilose Charakteristik bei nächster Gelegenheit folgen wird.




Ein Kapitel für die Frauen.

Von Amely Bölte.

Im Verlaufe der letzten fünfzig Jahre sind wir dahin gekommen, das weibliche Geschlecht nur für den Salon zu bilden. So wie die Erziehung ein größeres Gemeingut zu werden anfing, wollte man auch die Frauen nicht davon ausschließen und sie durch eine Entwicklung ihrer Geisteskräfte eine höhere Stufe der Kultur erreichen lassen; doch wies man sie vorzugsweise darauf an, dem Schönen zu huldigen. Man hieß sie Talente ausbilden, um dadurch ihre Freude an ausgebildeten Talenten zu erhöhen, weil das Verständniß einer Sache unsern Genuß stets steigert; indem man sie aber mit solchen Blüthen schmückte, lehrte man sie auch durch diesen Schmuck gefallen zu wollen und eröffnete damit ihrer Eitelkeit eine ganz neue Sphäre. Die romantische Schule lieh dieser Hinneigung nun noch den Schmelz der Empfindsamkeit, bis die Anhängerinnen eines Jean Paul es dahin brachten, nur von Blumenduft und Weihrauch leben zu wollen. Der Ernst des Lebens hieß ihnen trockene Prosa, jeden bunten Flitter desselben bezeichneten sie mit dem Worte Poesie, sie träumten nur von überschwenglicher Liebe und setzten die Hauptaufgabe des Lebens darin, angebetet zu werden. Kein Mann konnte sich ihnen nahen, ohne daß ihr Auge auf seinem Gesichte den Ausdruck der Empfindungen suchte, die sie einzuflößen begehrten, und in einsamer Stunde nahmen sie dann sogleich ihr Blümchen Wunderhold zur Hand und zupften: „Er liebt mich, er liebt mich nicht, er liebt mich, er liebt mich nicht;“ und so fort, bis sie das gewünschte Resultat gezupft hatten.

Die romantische Schule lebte sich aus, die Männer wuchsen in eine andere Richtung hinüber; – aber die Frauen blieben stehen. Gehen wir in eine Leihbibliothek und sehen die Masse von Romanen aus weiblicher Feder durch, so werden wir finden, daß Liebe und immer wieder Liebe das große Thema ist, welches sie behandeln. Die Schriftstellerinnen sind die Repräsentantinnen ihres Geschlechtes, die dem Worte leihen, was die Andern im meistens Stillen empfinden und sinnen, und der Tadel, der den Männern in diesen Werken zugetheilt wird, daß sie nicht genug, nicht hingebend, nicht aufopfernd lieben, findet ein Echo in aller Herzen. Daß die Frauen nicht, gleich den Männern, jener neuen Zeitrichtung huldigten, die sich eines gesunderen Sinnes rühmt, der die Erde, die er unter seinen Füssen tritt, als seine große Mutter achtet, das ist wohl lediglich ihrem Erziehungssysteme zuzuschreiben.

Die gewöhnliche Phrase ist, daß man in heutiger Zeit schon viel von einem Mädchen erwarte, sie müsse Musik verstehen, müsse Sprachen treiben und in manchen kleinen Künsten erfahren sein. Dies nennt man die Erfordernisse einer guten Erziehung, und ein recht gebildetes Mädchen wird jene geheißen, die diesen Standpunkt erreicht hat. Man thut ihr damit Unrecht. Bildung kann bestehen ohne Sprachen und ohne Talente. Bildung geht dem innern Menschen an, wie dieser den Gang seiner Gedanken geschult und geregelt hat, so hat er sich gebildet. Bildung ist also im eigentlichen Sinne des Wortes Selbsterziehung, und diese erfordert stille Stunden, erfordert ein Insichgehen, ein Rechten mit sich selbst, eine Wachsamkeit über die Gedanken wie über die Thaten, eine strenge Prüfung, ob man an jedem Tage den Ansprüchen genügt, die man an sich machen konnte. – Will man zugleich den Schönheitssinn entwickeln, so muß dies die Bildung fördern; denn alle Sittlichkeit ist schön, und jedes Leben, das seinem großen Entzwecke entspricht, ist ein schönes.

Jedes menschliche Individuum muß zuerst sich selbst als den Zweck seines Lebens ansehen, denn nur, indem Jeder sich bemüht das Höchste, das seine Natur erreichen kann, aus sich zu machen, wird die ganze Menschheit auf ihrem Wege zu einer vollkommeneren Existenz gefördert. Die zweite Beziehung gilt erst den Personen, die unsern nächsten Lebenskreis ausmachen. Der Frauen Sphäre ist das Haus; die Pflege und Erziehung der Kinder liegt ihnen ob, sie mögen verheirathet oder unverheirathet sein. In der Erfüllung dieser Pflichten haben sie die Aufgabe ihres Lebens zu suchen. Kleine Sorgen und kleine Mühen treten ihnen überall entgegen, und werden für sie ein Quell der schönsten Freuden, sobald sie sich derselben im rechten Sinne unterziehen. Die Arbeit zu finden, die uns Befriedigung gewährt, die uns neben der eigenen Billigung auch den Beifall Anderer verspricht, das ist eigentlich das einzige dauernde Glück. Das System unserer jetzigen Erziehung hat den Frauen mehr oder minder diese Genugthuung geraubt, und damit die Basis der Selbstachtung unter ihren Füßen fortgezogen. Die Mütter haben sich eingeredet, daß ein Mädchen, wenn es erwachsen in die Gesellschaft trete, Aufsehen erregen müsse, um so den Männern zu gefallen. Aus diesem Grunde wird die ganze schöne Jugendzeit damit verbracht, sie in Dingen zu unterweisen, die in keiner Mädchenerziehung die Hauptsache sein sollten. Der Mann, der sie zur Gattin wählt, ist nicht immer ein Freund der Musik, weniger noch wird er mit ihr fremde Sprachen reden, wohl aber kann es ihn glücklich machen, wenn sie sinnig auf seine Interessen eingeht, wenn sie seinem Hause mit Umsicht vorsteht, so daß seine Einnahme, wie klein oder wie groß diese sei, für ihre beiderseitigen Bedürfnisse ausreicht. Dieser Punkt ist wohl der schwierigste in jedem neuorganisirten Haushalte und einer ernsten Betrachtung werth.

Der Mann erwirbt das Geld; der Frau fällt das Detail der Ausgaben anheim, sie hat zu überlegen, wie viel sie hier und wie viel dort verwenden kann, damit der ganze Haushalt verhältnißmäßig organisirt sei. Das Glück einer Ehe beruht vielfach auf diesem Talente, oder scheitert an demselben. Der Luxus unserer Lebensweise ist leider unendlich gestiegen, und fast täglich steigern sich unsere Ansprüche! Die Einnahme unserer Staatsdiener ist dagegen, was sie vor fünfzig Jahren war, und auch in andern Lebensstellungen erblicken wir dasselbe Verhältniß. Die Wohnung einer Familie muß jetzt bedeutend größer sein, wie ehemals; es dürfen Gesellschaftszimmer nicht darin fehlen, und die Hausrenten steigern sich mit jedem Jahre. Die Erziehung der Kinder ist viel kostspieliger geworden, die Töchter und auch die Söhne müssen Privatunterricht haben, und sogar die Bücherrechnung ist am Ende jedes Jahres eine Summe. Wo sonst eine Dienerin gehalten wurde, da findet man jetzt zwei und unter zehn Müttern nährt kaum eine noch ihr Kind. Ein anderer wichtiger Punkt ist die Toilette der Frau, die in demselben Verhältniß zur Einnahme steht, wie das Cigarrenrauchen des Mannes. Keine Frau kann jetzt mehr ohne bunte seidene Kleider ausgehen, und

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 100. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_100.jpg&oldid=- (Version vom 20.4.2020)