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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

des Sauerstoffs durch Priestley und Scheele – 1774 – mehr noch durch die Forschungen des scharfsinnigen Lavoisier wurde dem rastlosen menschlichen Geiste eine neue Bahn gebrochen und seit dieser Zeit erst ist die Chemie eingetreten in die Reihe der Wissenschaften. Die meisten übrigen Zweige der gesammten Naturwissenschaften haben von dieser Zeit her neue belebende Kraft von der Chemie empfangen. „In diesem Zeichen wirst Du siegen,“ rief Lavoisier, als er die Waage, dieses einfache Instrument, von dessen Zunge man allein sagen kann, daß sie stets nur die Wahrheit verkünde, in die Wissenschaft einführte. Noch sind seitdem keine hundert Jahre verflossen, und diese kurze Zeit hat genügt, unsere gesammte Industrie umzugestalten, den Einfluß der Chemie auf das Leben als einen allgewaltigen darzuthun.

Um die kulturgeschichtliche Bedeutung der Chemie zu beweisen, bedarf es heute keiner Worte mehr. Als unumstößliche Wahrheit steht der Ausspruch von Berthollet fest: „Es existirt keine menschliche Beschäftigung, die sich nicht mit ihrem Lichte erleuchtet.“ Niemand kann sich jetzt ihrem Einflusse entziehen, ohne sich selbst in großen Schaden zu bringen. Leider aber ist diese Erkenntniß noch nicht in das Fleisch und Blut Aller übergegangen, selbst nicht bei denen, wo man es mit Recht fordern kann. Von der großen Menge wollen wir hier nicht reden, sondern nur von den Industriellen, die so gern ihre Bedeutung in den Vordergrund stellen. Wie traurig es hier bei allen Fortschritten aussieht, werden einige Belege genügen, in helles Licht zu setzen. Auf der letzten Industrieausstellung zu Breslau machte sich die Bezeichnung: „Rasenbleiche“ auf dem Linnen mit einer gewissen Absichtlichkeit sehr bemerklich; die Aussteller hatten hierbei nicht bedacht, daß sie sich im Jahre 1852 dadurch öffentlich ein Zeugniß ihrer geistigen Armuth ausstellten. Ohne die chemische Bleiche wäre die riesenmäßige Entfaltung der englischen Linnen- und Baumwollenindustrie Englands seit dem Anfange unseres Jahrhunderts gar nicht denkbar. Ganz England gewährte in der That keinen Raum, um alle Fabrikate an der Luft zu bleichen. Ist die Anwendung des Chlorkalkes bei uns in Mißkredit gekommen, so liegt die Schuld einzig nur an dem Mangel chemischer Kenntnisse bei denen, welche diese Operation ausführten. Als Schrötter vor wenigen Jahren eine leichte Methode auffand, den sogenannten amorphen Phosphor darzustellen, wußte bei uns Niemand damit etwas anzufangen, obgleich seine Vortheile im Vergleich zu dem gewöhnlichen auf der Hand lagen und die schrecklichen Krankheiten, denen diejenigen anheimfallen, die mit der Verarbeitung des Phosphors beschäftigt sind, gebieterisch Abhülfe forderten. Kaum aber war das neue Produkt der Wissenschaft auf der Ausstellung zu London bemerkt worden, so ergingen die vortheilhaftesten Anerbietungen an den Entdecker und heute haben wir den beschämenden Anblick, daß die Ergebnisse deutscher Wissenschaft unserem Vaterlande aus der Fremde zukommen. Gleich bei der Entdeckung des Paraffins im Jahre 1830 entgingen die schätzbaren Eigenschaften desselben für die künstliche Beleuchtung Reichenbach, dem Entdecker, nicht. Er sprach es öffentlich aus, daß das neue Produkt ein treffliches Material abgebe zur Darstellung von Kerzen. Mehr als zwanzig Jahre mußten erst vergehen, bevor dieser Gedanke Leben erhielt, und wieder war es England, welches unsern Kleinmüthigen beweisen mußte, daß deutsche Gedanken lebensfähig seien.

Solche Wahrnehmungen, die sich bis in’s Unendliche ausdehnen ließen, geben ein Recht den Eifer nach Erkenntniß der Natur, der sich heute in allen Schichten der Gesellschaft offenbart und unserer Zeit ein eigenthümliches Gepräge aufdrückt, durch welches sie sich von allen andern Epochen aufs Bestimmteste unterscheidet, für Strohfeuer zu deuten. Trotz alledem aber, eben weil sie die Schulen bloß legen, sind sie zugleich Aufforderungen an die Jünger der Wissenschaft, nicht müde zu werden in dem Predigen des Evangeliums der Neuzeit: geht auch nicht die ganze Saat auf, einzelne Körner finden doch hier und da einen fruchtbaren Boden. Dieser Gedanke kam auch mir bei der Durchsicht des ersten Jahrganges dieses vielgelesenen Blattes, als ich in ihm die Chemie nur äußerst schwach vertreten sah. Und so begrüße ich denn als neuer Mitarbeiter den Leser freundlichst. Ich bin überzeugt, daß er den Einfluß der Wissenschaft, als deren geringen Jünger ich mich ansehe, auf das Leben anerkennt und gerne meine Worte vernehmen wird. An Stoff fehlt es mir nicht, denn er ist unerschöpflich, und an dem guten Willen, soviel in meinen schwachen Kräften steht, mit beizutragen zu dem großen Bau der Zukunft, in die man sich oft aus der unerquicklichen Gegenwart flüchtet, auch nicht. Und so hoffe ich denn bald in dem weiten Kreise meiner Leser heimisch zu werden.

Für heute will ich Ihnen zwei Ausdrücke erklären, die für die Wissenschaft von der größten Bedeutung sind. Die Worte: Reaction und Reagens. Das erstere ist heut zu Tage einem jeden Munde mehr oder weniger geläufig, aber dennoch hat Niemand so viel mit der Reaction oder vielmehr mit Reactionen zu schaffen, wie gerade der Chemiker. Die Reactionen sind nämlich die Hauptstützen der analytischen Chemie, desjenigen Zweiges der Wissenschaft, der sich mit der Zerlegung der Körper beschäftigt. Sie ist es, welche uns nicht allein die Natur der Stoffe lehrt, die in einem bestimmten Körper vereinigt, sondern auch die Gewichtsverhältnisse, in denen sie mit einandern sind.

Die Bezeichnung „Reaction“ stammt aus dem Lateinischen; sie bedeutet: Rückwirkung, Gegenwirkung, gegenseitige Wirkung. Man hat daher darunter zu verstehen eine jede sinnlich wahrnehmbare Veränderung, die durch Aufeinanderwirken zweier oder mehrerer Körper entsteht. Derjenige Stoff nun, der diese Veränderung hervorbringt, heißt Reagens. In der analytischen Chemie hat dieses Wort aber noch eine speciellere Bedeutung. Reagentien sind hier solche Körper, die durch die bestimmte Veränderung, die sie und nur eben sie hervorrufen, auch bestimmte Stoffe mit unumstößlicher Gewißheit anzeigen. Sie sind es also, welche jeden Körper zwingen, seine ihm eigenthümliche Natur zu offenbaren und sich dadurch zu erkennen zu geben. So groß auch die Zahl der verschiedenen in der Natur vorkommenden Körper und die Zahl der Verbindungen dieser unter einander ist, so sind deren Eigenschaften wiederum so mannigfaltig, daß jeder Körper wenigstens eine besitzt, die nur ihm eigenthümlich und durch die er mit Sicherheit von dem Chemiker, eben mit Hülfe der Reagentien erkannt wird. Die Erscheinungen nun, welche dem Chemiker die Gegenwart gewisser Stoffe zu erkennen geben, gleichsam die Antworten auf seine Fragen, sind, wie wir aus folgenden Beispielen sehen werden, der mannigfaltigsten Art: Farbenveränderung, Trübung, Niederschlag, Aufbrausen, Lichtbildung, eigenthümliche Gerüche, Explosionen etc.

Ein jeder Leser wird wohl die Bemerkung gemacht haben, daß Anstriche mit weißer Oelfarbe im Laufe der Zeit gelb werden. Dem Chemiker sagt dies zweierlei: einmal daß die Farbe eine Bleiverbindung ist und dann, daß in dem Raume eine Schwefelwasserstoffentwickelung stattgefunden hat. Das Schwefelwasserstoffgas wirkt nämlich zersetzend auf die Bleiverbindung ein; der Schwefel verbindet sich mit dem Blei zu Schwefelblei, das eigentlich schwarz aussieht, hier aber durch den Ueberschuß der weißen Farbe zu gelb modificirt wird, während das Wasserstoffgas mit dem Sauerstoff aus dem Bleioxyd Wasser bildet. Die Thüre, oder vielmehr der Anstrich, ist hier also ein Reagens und zwar auf Schwefelwasserstoffgas, ein weit empfindlicheres als unsere Nase, die auch darauf reagirt, aber nur dann, wenn das besagte Gas in größerer Menge vorhanden ist, wo es sich durch einen abscheulichen Geruch nach faulen Eiern bemerkbar macht. – Rufen wir durch Zusatz von Aetzammoniak – bekannter unter dem Namen Salmiakgeist – in einer farblosen Flüssigkeit eine prächtig blaue Farbe hervor, so weiß der Chemiker mit Bestimmtheit, daß Kupfer zugegen ist. Halten wir einen glimmenden Spahn in ein mit Gas gefülltes Gefäß, und brennt er sogleich mit heller Flamme, so zeigt dies die Gegenwart des Sauerstoffs an. Schütten wir auf eine Substanz irgend eine Säure und erfolgt dann ein Aufbrausen, so erkennen wir daran das Vorhandensein der Kohlensäure, wenn nämlich das entweichende Gas in unserer Nase ein Prickeln hervorbringt, sonst aber keinen Geruch hat. Werfen wir einen Körper auf glühende Kohlen und verbreitet er einen Geruch nach Knoblauch, so haben wir Arsenik vor uns. Ist auch unsere Nase, wie wir gesehen haben, ein sehr unvollkommenes und unsicheres Reagens, auf die wir uns nicht immer verlassen können, so zeigt sie hier doch sehr kleine Spuren von Arsenik deutlich an.

Wir wollen diese Aufzählung nicht bis in’s Unendliche vermehren; wir werden noch oft Gelegenheit haben, darauf zurückzukommen. Jetzt wollen wir wiederum an einigen Beispielen zeigen, bis auf welche Grenzen hin der Chemiker mit noch einiger Sicherheit die Anwesenheit bestimmter Stoffe anzugeben vermag. Wir wollen jedoch nicht verhehlen, daß in den Angaben hierüber von Seiten der verschiedenen Beobachter große Verschiedenheiten

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verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 74. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_074.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)