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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

entgegen, sie hielten die eheliche Verbindung ihrer Tochter mit dem jungen Dubois sogar für ein großes Glück für sie und hatten nichts Eiligeres zu thun, als ihr Jawort zu geben. Madelaine wagte als eine gehorsame Tochter keinerlei Einwendung zu machen, obgleich ihr Herz von Stund’ an von einem unbeschreiblichen Herzweh befallen wurde. Ihre reine Seele hatte eine Ahnung von dem ihr bevorstehenden Geschick. Die feierliche Verlobung war kaum vorüber, so fühlte sie erst recht, wie theuer ihr der stille Provisor war, der von diesem Tage an nicht mehr am Fenster und an der Thüre der Apotheke gesehen wurde. Sein Schmerz war so groß und so tief wie seine Liebe, aber er wurde so wenig laut wie diese. Senac verzehrte sich in stummem Gram und widmete sich seiner Kunst mit einem Eifer und einer Beharrlichkeit, die seinen Principal in Erstaunen setzte.

Noch war kein halbes Jahr seit der Hochzeit Dubois’ und Madelaine’s verflossen, als die Letztere bereits die ganze Tiefe ihres Elends erkannt hatte. Sie verachtete ihren liederlichen Mann, der dagegen ihren Umgang sehr langweilig fand und sich in der Gesellschaft unterhaltender Frauenzimmer entschädigte. Er reisete oft in die benachbarten größeren Städte und nach Paris und bald wohnten einige Damen in Bray, die er unterhielt. Madelaine’s stiller Gram wurde täglich größer, und steigerte sich durch den Tod ihrer Aeltern, die schnell aus Herzeleid, daß sie ihre geliebte Tochter in ein solches Unglück gestürzt hatten, dahin starben. Die arme Frau weinte seit dieser Zeit schier Tag und Nacht und machte sich dadurch ihrem lebenslustigen Manne nur noch unausstehlicher. Es kam zu heftigen Scenen, und die letzte derselben hatte den tragischen Ausgang, daß Madelaine eine Fehlgeburt machte und einige Stunden darauf an Schwäche starb.

Dubois, froh, „die Betschwester“, wie er sie nannte, los zu sein und die reiche Erbschaft anzutreten – im Ehecontract hatten sich die beiden Gatten ihr Vermögen gegenseitig vermacht – ließ sie schon am Abend des folgenden Tages in dem Familiengrabgewölbe ihrer Familie, welches sich unter der Salvatorkirche am Gottesacker befand, beisetzen.

Kaum war das Leichenbegängniß vorüber, als er nichts Eiligeres zu thun hatte, als jede Spur von der Verstorbenen in seinem Hause zu vertilgen, mit der Nacht Thüren und Läden zu schließen, seine Zimmer aufzuputzen und mit Kerzenlicht freundlich erhellen und ein leckeres Mahl bereiten zu lassen. In der Dunkelheit der Nacht führte er sodann seine Pariser jungen Freundinnen in’s Haus und hielt mit ihnen ein schwelgerisches Mahl, um sich für den Zwang zu entschädigen, den er sich zeither hatte anthun müssen.

Dem Provisor Senac war Madelaine’s Schicksal nicht verborgen geblieben, und die öftere Kunde, die er von einer Zofe der unglücklichen Frau einzog, vermehrte nur sein eigenes Leid. Als er ihren schnellen Tod vernahm, wurde er zwar von ungeheurem Schmerz fast niedergeworfen, aber er dankte doch Gott für die Erlösung der armen Dulderin. In seinen Mantel gehüllt, folgte er von fern dem Leichenzuge, und hegte jetzt für sein Leben nur noch einen Wunsch: Madelaine’s liebliche Hülle noch einmal zu sehen. Seit sie verheirathet war, hatte er ihren Anblick als sündhaft vermieden. Jetzt war sie Gottes Eigenthum, und das Verlangen, seine Seele noch einmal an den theuern, milden Zügen zu weiden, so groß, daß er ihm nicht widerstehen konnte. Er versah sich daher mit Geld und ein Paar Wachskerzen und begab sich zum Sacristan der St. Salvatorkirche. Das Gold öffnete die Hand des Mannes und die Hand die Thüren der Kirche und des Grabgewölbes. Es war noch lange nicht Mitternacht, als Senac mit einer brennenden Kerze in die schauerliche Gruft hinabstieg. Ohne Furcht und Grauen – die heiligste Liebe erfüllte ja sein Herz so ganz und gar, daß kein andres Gefühl darin Platz greifen konnte – schritt er an der Reihe der aufgestellten Särge vorüber bis zu dem vor wenig Stunden hierhergebrachten und nahm den Deckel ab. Da lag sie schön wie ein Engel im weißen Brautkleide, das höchste Gut seines Lebens und Seins, für dieses Leben verloren für ihn. Die Kerze, die er neben ihr Haupt gestellt hatte, beleuchtete die schönen verklärten Züge; er stand lange in ihr Anschauen versunken mit verschränkten Armen vor ihr, und große Thränentropfen rollten langsam über seine Wangen, ohne daß er es merkte. Endlich bog er sich zu ihr hinab; er that es unwillkürlich. Die Natur forderte ihr heiliges Recht. Nie hatte er auch nur an die Kühnheit gedacht, einen Kuß auf die keuschen Lippen der Geliebten drücken zu dürfen. Jetzt, da diese Lippen vom Tode kalt geküßt waren, konnte er es sich nicht versagen ihnen den einzigen, den ersten und letzten Kuß aufzudrücken. Und er küßte sie mit der Seele. Erschreckt fuhr er zurück. Was ist das? Das ist nicht die eisige Kälte des Todes! In diesen Lippen ist die warme Welle des Bluts noch nicht erstarrt. Barmherziger Gott, wär’s möglich? Sollte Madelaine nicht todt sein? Senac hat die ausgedehntesten ärztlichen und wundärztlichen Kenntnisse. Im Nu reißt er die Gewande hinweg und forscht mit kundiger Hand nach den Anzeichen des Lebens. Die Seele ist ihm in die Fingerspitzen getreten; der eigne Athem stockt ihm vor Erwartung. Er stößt einen Schrei der Ueberraschung aus; er hat die leise Wärme und Bewegung des Bluts entdeckt. Die Geliebte ist nicht todt. Rasch umschlingt er sie und trägt die köstliche Last aus dem Gewölbe, dem in der Kirche harrenden Sacristan seine Entdeckung verkündend. Die beiden Männer bringen die Scheintodte in des Sacristans Wohnung, legen sie in ein Bett, und der Apotheker giebt zweckmäßige Verordnungen auszuführen, während er selbst nach Hause eilt, die nöthigen Mittel herbeizuholen. Er fliegt und zurückgekehrt, reibt er den schönen Körper mit den kräftigsten Essenzen ein und tropft ihr andre zwischen die Lippen. Eh’ eine Stunde vergeht, athmet sie und ein leichter Schweiß tritt aus den Poren. Er öffnet ihr eine Ader: das köstliche Blut fließt in die Schale. Sie schlägt die Augen auf. Verwundert schaut sie um sich, und ihr Auge ruht mit stillem Entzücken auf dem geliebten Manne. Sie hält Alles für einen schönen Traum. Aber Senac’s Seligkeit bricht in Worten aus. „Gelobt sei Gott und alle Heiligen!“ ruft er. „Sie ist gerettet! – Könnt Ihr sprechen, theure Frau? Wie fühlt Ihr Euch?“

„Wohl! Sehr wohl! haucht sie ihm zu. Aber wo bin ich? Was ist mit mir vorgegangen?“

„Es ist Euch ein kleiner Unfall zugestoßen. Euer Zustand erlaubt nicht, daß ich Euch jetzt Alles mittheile. Ihr werdet es erfahren, wenn Ihr ganz genesen seid.“

„Aber warum bin ich nicht in meinem Hause, in meinem Zimmer, in meinem Bette?“

„Ein seltsamer Zufall hat Euch demselben entführt. Morgen sollt Ihr das Ereigniß kennen lernen. Jetzt ruht. Ein wohlthätiger Schlaf wird Euch erquicken.“

„Aber nicht hier. Die fremde Umgebung ängstigt mich. Ich bitt’ Euch, Herr Senac, bringt mich nach Hause. Hier kann ich nicht bleiben.“

„Bleibt nur bis morgen. Die Rückkehr in Euer Haus könnte Euerm Leben gefährlich werden.“

„Nein! nein! Ich beschwör’ Euch: laßt mich heim. Mir wird hier unwohl. Auch ist’s unziemlich, daß ich hier in Eurer Gesellschaft verweile. Ich gehöre in das Haus meines Gatten.“

Senac vermag ihren rührenden Bitten nicht zu widerstehen. Der Sacristan schafft eine Sänfte herbei, die Kranke wird wohlverwahrt hinein gesetzt, und die beiden Männer tragen sie durch die stille Nacht ihrer Wohnung zu, der Apotheker voll verzweifelten Schmerzes, daß er es ist, welcher das theure Kleinod seinem gewissenlosen Peiniger selbst überliefern muß. Einen Augenblick hat er daran gedacht, sich vor Madelainen niederzuwerfen, ihr Alles zu entdecken und sie zu beschwören, und mit ihr zu entfliehen. Aber der Streit in ihm ist bald geschlichtet. Er weiß, daß die gottesfürchtige Frau nicht einwilligen wird wider göttliche und menschliche Gebote zu handeln, und er schämt sich selbst seiner sündhaften Gedanken.

So langen sie bei Dubois Hause an und klopfen an die Thür. Nicht lange, und es wird geöffnet. Dubois tritt ihnen mit einer Kerze in der Hand selbst entgegen, berauscht und schimpfend ob der unwillkommenen Störung.

Stumm schreiten die Träger in das Haus und öffnen die niedergesetzte Sänfte. Madelaine erhebt sich. Dubois stößt einen furchtbaren Schrei aus und stürzt zu Boden. Die herbeigeeilte Dienerschaft flieht entsetzt. Ein wildes Geheul erschallt durch das Haus. Die leichtfertigen Pariserinnen rasen, wie von einem Engel mit dem Flammenschwert verfolgt, aus dem Hause. Senac und der Sacristan bringen die vom Tode erstandene Frau in ihr Zimmer, betten sie weich und gewähren ihr alle nöthige Hülfeleistung, da Niemand im Hause sich hören oder sehen läßt. Senac holt aus der Apotheke neue Medikamente herbei und giebt sie ihr ein.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1854). Ernst Keil, Leipzig 1854, Seite 48. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1854)_048.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)