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verschiedene: Die Gartenlaube (1854)

Auch kann ich mich nicht erinnern, jemals so viele Worte gemacht zu haben, als in dieser Minute.“

Damit hielt er dem Andern die Hand hin. Dieser gab denn auch die seinige, und der junge Mann fuhr in einer Art muthiger Begeisterung fort: „Also fest umschlungen, Arm in Arm! Und nun kurzen Prozeß! Es ist mir recht wohl, zuletzt noch ein paar Augenblicke an einem Menschenherzen zu liegen. Ich frage nicht, ob Du auch ein Schuft bist. Hinab!“

Der ältere Mann, der erst so große Eile gehabt hatte, in die kalten Fluthen der Themse unterzutauchen, legte jetzt der Eile des Jüngern einen Zügel an, indem er dessen Hand festhielt und ihn zurückzog. „Halt, Herr!“ sagte er, indem sein lebensmüdes Auge in den Zügen seines Gegenübers zu forschen bemüht war, so viel der ungewisse Schein der nächsten Laterne erlaubte, „Sie sind noch so jung, und wollen schon freiwillig aus dem Leben gehen. Ich fürchte, Sie übereilen sich. Für einen Mann in Ihren Jahren bietet das Leben noch tausend schöne Fernsichten und reizende Genüsse.“

„Ja Moder und Gestank, Lug und Trug, Nichtswürdigkeit und Verworfenheit. Kommen Sie und machen wir der Sache ein Ende!“

„So jung Sie sind, Sie haben schon sehr schlimme Erfahrungen gemacht, und scheinen alle Kreaturen, welche die menschliche Gestalt tragen, für Otterngezücht zu halten.“

„Ottern sind edle Geschöpfe gegen den Menschen; denn sie folgen ihrem Naturtrieb; sie sind keine Heuchler, welche die Tugend im Munde führen und das Laster im Herzen.“

„Sie thun mir leid; denn in der That es giebt viele ehrenwerthe Ausnahmen von der von Ihnen aufgestellten Regel.“

„Hahaha! Ausnahmen!“ lachte der junge Mann bitter und höhnisch. „Ich habe keine gefunden.“

„Dann darf ich Ihnen wenigstens den, wenn auch armseligen Trost geben, daß Sie in dieser ernsten Stunde eine solche gefunden haben. So sehr auch das Lügen den meisten Menschen zur Gewohnheit geworden ist, in der Todesstunde, gegenüber der ernsten und stummen Ewigkeit, pflegen die Wenigsten zu lügen. Ich aber habe mein Leben lang nicht gelogen und möchte um keinen Preis der Welt mit einer Lüge auf den Lippen die dunkle Straße wandeln. Wenn ich Ihnen also sage: ich bin kein Schuft, für den Sie auch mich zu halten scheinen, sondern ein ganz ehrlicher und braver Mann, so ist das die lautere Wahrheit.“

„Wirklich? Das ist interessant! So müßte ich den einzigen ehrlichen Menschen, der mir vorgekommen, gerade auf diesem letzten Wege kennen lernen, um mit ihm gemeinschaftlich der Welt Valet zu sagen.“

„Lassen Sie mich allein gehen und bleiben Sie. Es giebt noch mehr, noch viel ehrliche und brave Menschen, die Ihnen ein nüchternes, einfaches, thätiges Leben mit Lust und Schönheit würzen können. Suchen Sie sie nur, Sie werden sie gewiß finden.“

„Nun den ersten hätt’ ich ja schon gefunden. Aber wenn sich Ihnen das Leben von so paradiesischer Seite präsentirt hat, warum wollen Sie es denn gleich mir von sich werfen?“

„Weil ich ein alter blutarmer und dabei kranker und schwacher Mann bin, der nicht im Stande ist, etwas zu verdienen und es nicht länger mit ansehen kann, daß sein einziges Kind, ein Engel von Tochter, sich Tag und Nacht todtarbeitet, um mich alten unbrauchbaren elenden Menschen zu ernähren, ja mir sogar noch manche kleine Freude zu machen. Nein, Herr, das länger zu ertragen, müßte ich ein Unmensch, ein Barbar sein.“

„Was, Herr!“ rief der Andere wie erschrocken. „Sie haben eine einzige Tochter, die sich für Sie aufopfert?“

„O und mit welcher Geduld, mit welcher Milde, mit welcher Liebe, mit welcher Ausdauer thut sie es! Ich sehe sie dahin welken unter Arbeit und Entbehrung und keine Klage entschlüpft ihren bleichen Lippen. Sie arbeitet und hungert und hat immer ein Wort der Liebe, ein seliges Lächeln für mich.“

„Herr, und Sie wollen sich umbringen? Sind Sie des Teufels?“

„Kann ich den Engel langsam ermorden? Das wühlt mir wie ein Schwert in der Seele,“ weinte und schluchzte der alte Mann.

„Herr, Sie müssen mit mir eine Flasche Wein dort in der Taberne trinken und mir dabei Ihr Schicksal erzählen. Wenn’s Ihnen recht ist, will ich dagegen mit dem meinigen aufwarten. Im Voraus sag’ ich Ihnen, Sie brauchen nicht da hinab zu springen; denn ich bin ein reicher, ein sehr reicher Mann, und wenn Alles sich so verhält, wie Sie mir angedeutet haben, so braucht Ihre Tochter nicht mehr zu arbeiten, und Sie sollen Beide nicht hungern.“

Der weinende Mann ließ sich fortziehen. Sie traten zusammen in die Schenkstube. Bald standen volle Gläser vor ihnen, und sie betrachteten einander näher beim hellen Lampenlichte.

„Mein Schicksal ist bald erzählt,“ nahm der Alte gefaßt und vom Feuer des Weins angenehm erregt, das Wort. „Ich bin Kaufmann, aber das Glück war mir nicht hold; ich hatte kein eignes Vermögen und liebte ein armes Mädchen. Aus diesen Gründen brachte ich es niemals zu einem eignen Geschäfte, sondern diente in verschiedenen Häusern als Commis und Buchhalter, bis man mich nicht mehr brauchen konnte oder vielmehr wollte und jüngere Kräfte den meinigen vorzog. So beschränkt meine Verhältnisse waren, so schön und glücklich war mein Familienleben. Mein Weib war ein Engel an Liebe, Güte und Sanftmuth, fromm und gottesfürchtig, thätig und treu, und sie hat ihre einzige Tochter wiederum zu solch einem Engel erzogen. Aber durch Krankheit und Alter bin ich endlich der härtesten Noth verfallen, und mein Gewissen giebt es nicht zu, daß das beste Kind auf Erden sich für mich alten unbrauchbaren Menschen opfert. Ich kann ja unmöglich mehr lange zu leben haben, und so wird mir Gott verzeihen, wenn ich selbst ein paar Dutzend Tage oder Wochen abstreiche, um wenigstens Gesundheit und Leben meiner Betty zu erhalten.“

„Alter, Sie sind ein glücklicher Mann,“ rief der Jüngere. „Mir ist noch kein so Glücklicher vorgekommen. Was Sie Ihr Unglück nennen, das ist Lapperei. Dem ist jetzt schon gründlich und für immer abgeholfen. Ich werde Sie morgen früh durch ein Testament zu meinem Erben einsetzen, und den Sprung von der Brücke noch um einen Tag verschieben. Erst will ich Ihre Betty kennen lernen, um doch einem Menschenkinde, das den Namen Mensch verdient, in’s Auge geschaut zu haben, eh’ ich zu den Todten gehe.“

„Aber, Herr, was hat Sie so unglücklich bei dieser Jugend gemacht?“ rief der alte Mann voll Mitleid und Jammer.

„Ich glaube der Reichthum meines Vaters. Ich bin der einzige Sohn eines der ersten Handlungskäufer Londons, und auch ich bin Kaufmann, wie Sie. Wenn ich Ihnen meinen Namen nenne, werden Sie ihn kennen und von der Wahrheit meiner Angabe überzeugt sein. Mein Vater starb vor fünf Jahren und hinterließ mir ein ungeheures Vermögen. Von Stund’ an bin ich von allen Menschen, die mit mir in Berührung kamen, belogen, betrogen, hintergangen und bestohlen worden. Ich war ein unschuldiges Kind an Glauben und Vertrauen; ich war in der Erziehung nicht verdorben worden und hatte von meiner guten Mutter das weiche, liebedürftige Herz geerbt. Ich wollte mit edlen, guten Menschen im Bund der Liebe und Freundschaft leben; ich fand heuchlerische Schurken, Falschmünzer der Gesinnung, ohne andern Zweck, als mir Geld abzunehmen und sich auf meine Kosten vergnügte Tage zu machen. Freunde, oder vielmehr Schufte, die ich für Freunde hielt und denen ich mein ganzes Herz hingab, verriethen und verlachten mich als einen guten dummen Jungen, aber mein Auge schärfte sich mit der Zeit und mein Herz sog sich voll Mißtrauen. Ich durchschaute endlich alle Betrüger. Ich verlobte mich mit einer reichen Erbin, im Besitz der höchsten Bildung unsrer Zeit; ich schwärmte für sie in kindischer Begeistrung. Ihre Liebe sollte mir alles Andere ersetzen. Bald erkannt’ ich sie als eine eitle stolze Närrin, die mich zu ihrem Sklaven machen und alle Männer an ihren Triumphwagen spannen wollte. Ich brach mit ihr und wählte ein reizendes armes Kind, ein süßes unschuldiges Täubchen, das der Engel meines Lebens werden sollte. Juchhe! Ich überraschte sie in den Armen eines andern, von ihr geliebten Jünglings. Mir hatte sie Liebe gelogen, um eine reiche Frau zu werden. Ich stürzte mich in Genüsse, ich ging auf Reisen: überall dasselbe moralische Elend. Zuletzt wurde mir das Leben zum fürchterlichsten Ekel. Wir begegneten uns, als ich der jämmerlichen Posse ein schnelles Ende machen wollte.“

„Armer junger Mann!“ sagte der Alte mit einer Thräne des Mitgefühls im Auge. „Wie sehr bedaure ich Sie! Ja ich armer Mann bin glücklicher gewesen als Sie. Ich hatte ein Weib und eine Tochter, die rein und tugendhaft aus Gottes Hand hervorgingen.

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