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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853)

Diese Leute kennen das Strafgesetzbuch besser als sie je den Katechismus gekannt haben; sie kennen alle Blößen und Klippen desselben, sie haben alle Windungen studirt und spazieren ganz geschickt in dem Labyrinthe der Gesetze herum. Das ist ohne Zweifel kein ehrenhaftes Metier, und ein Bürger aus der Straße oder Vorstadt St. Denis wird seinem Sohne diesen Stand gewiß nicht empfehlen, und wir sprechen davon auch nur, weil wir aus unseren Studien eine möglichst vollständige Gallerie machen wollen.

Herr August ist etwa 35–40 Jahre alt. Ich traf ihn das erste Mal in einer Schenke. Er hat einen Gesichtsausdruck, der keineswegs für ihn einnimmt, große meergrüne Augen, die flach im Gesichte liegen und falsch sind wie die einer Hauskatze, einen falschen Mund, ein falsches Lächeln und ein falsches weißes Haar. Sein dicker Bauch wackelt über dünnen Beinen; ganz schwarz gekleidet, ahmt er so viel als möglich das Benehmen der Herren vom Justizpalaste nach. Aber das Alles ist alt und abgeschabt, denn Herr August kann seine Kleider beim „Hakle-mir’s-h’runter“ (beim Kleiderjuden).

Herr August ist ein ehemaliger Schreiber aus der Provinz. Ohne Pfennig nach Paris gekommen, versuchte er an den Thüren der Boulevardtheater Retourbillete zu verkaufen, und hier lernte er viele kleine Rentner und Müssiggänger kennen; Bummler aller Art, die täglich in Verlegenheit sind, um die Ewigkeit auszufüllen, die zwischen dem Frühstück und dem Diner um fünf Uhr, zwischen dem Zeitungslesen und der Theaterstunde sich ausdehnt.

Eines Tages spazierte er im Justizpalaste und bemerkte eine Menge Leute, die an den Thüren der Gerichtssäle passen, sich mit Bitten und Schmeicheleien an die Municipalen (Stadtpolizei) und Wachtposten wandten, um den Eintritt zu den Sitzungen zu erbetteln. Herr August, der sich auf Mittel und Wege versteht, erkannte augenblicklich, daß hier ein Vermögen zu holen sei; er hatte eine Idee!

Von diesem Augenblicke an brachte er seine Zeit im Justizpalaste zu, sprach die Leute an, die er aus den Kabineten der Instruktionsmagistrate treten sah. Er bot sich an, die Zeugen zur Kasse zu führen, um die zwei Francs zu erheben, die die Justiz den Zeugen bei Strafprozessen auszahlt, und überhaupt Jedem, der ihr Auskunft giebt. Wenn der Zeuge seine zwei Francs hatte und manchmal ein Glas Wein oder eine kleine Tasse Kaffee anbot, wußte August immer noch eine herzbrechende Geschichte zu erzählen und einige Sous auszupressen. Manchmal besteht ein Zeuge nicht auf Erhebung der zwei Francs, dann wechselt August die Batterie und heult eine jämmerliche Beschreibung seines häuslichen Elends inmitten einer zahlreichen Familie vor. Man giebt ihm das unnütze Papier, die Anweisung auf jene zwei Francs. Auf diese Weise, mit dem Sammeln der Assignationen und Citationen, hat August den Fundus seiner Boutike zusammengebracht, von der er jetzt lebt.

Heutzutage lebt August wie ein Domherr; er ist eine ansehnliche Person für das gemeine Volk geworden, das im Justizpalaste am meisten zu thun hat, verdient viel Geld und vermiethet an Gerichtstagen an Neugierige die Citationen der Zeugen, womit sie in die Säle gelangen. Die Posten an den Thüren der Säle haben den Auftrag, nur citirte Personen einzulassen; sie lesen nur die Titel: Citation, und nie den Rest des Papieres, das man ihnen vorweist; man braucht sich nur keck mit dem Papier Citation in der Hand hinzuwagen und kann sofort eintreten, der Posten hat seine Pflicht gethan. Das Alles hatte August bemerkt und er verstand Nutzen davon zu ziehen. Er weiß die Liste der zu beurtheilenden Justizgeschäfte auswendig; er kennt die Tage, wo die ausgezeichnetsten Advokaten oder Magistrate reden werden, und an diesen Tagen ist er von sieben Uhr früh an mit einem dicken Bündel Papiere (alter Citationen und Assignationen) an der Thür des Palastes. Man kennt ihn und er hat sein Publikum; er vermiethet sie zu einem Francs für je eine Sitzung; man zahlt erst, nachdem man seinen Platz eingenommen hat, aber man muß fünf Francs als Pfand geben, die man erst zurückbekommt, wenn man das Papier wieder heimgiebt.

„Und Sie gewinnen mit diesem Handwerke viel Geld?“ frug ich.

„Jenachdem der Prozeß ist; der Prozeß Laroncières hat mir bis 100 Francs täglich eingebracht; ich mußte einen meiner Gehülfen in den Saal schicken, um die Assignationen zurück zu verlangen. Eine und dieselbe Citation habe ich oft in einer Sitzung wohl zehn Mal vermiethet; der Prozeß Soufflard war auch nicht schlecht, aber nicht so viel werth, als der der Fracke.“

„Und die politischen Prozesse?“

„Das hängt von den Personen ab. Uebrigens erinnere ich mich gern auf die Geschäfte, die ich mit Complotten gemacht habe; auch Preßprozesse rentirten sich nicht übel. Weniger brachten die aufrührerischen Schreier ein; was endlich die Verbrechen, die Kindesmorde, Fälschungen, Diebstähle betrifft, so ist das sehr unzuverlässig.“

„Also, so viel ich sehe, wissen Sie immer, was Ihnen ein Todtschlag einbringen wird, wenn Sie nur die Umstände lesen?“

Verbrechen und Verbrechen ist ein Unterschied; die Stellung des Angeklagten entscheidet hier; wenn da ganz einfacher Weise ein Mann so im Vorübergeben seine Frau erschlagen hat, so ist das keinen Heller werth. Eifersüchtige und wilde Männer locken die Damen an. Aber das müssen Sie sehen, wenn so ein Kerl mir seine Geliebte in Fetzen zerschneidet; wenn er sie eines Abends in einem Hausgange abgelauert hat und sie ersticht; wenn er seinen Nebenbuhler erschießt – ach, der Tausend! das ist eine Goldgrube! die haben ein eigenes Publikum, alle Lorgnetten sind auf sie gerichtet, man bittet sie, in die Albums nur zwei Worte zu schreiben, das Parterre ist mit Weibern wie gestopft voll. Wenn sie auch nur erträglich hübsche Burschen sind, und wenn die Sitzungen zwei oder drei Tage dauern, so steigen meine Einnahmen auf das Doppelte. Wenn das Urtheil erst in der Nacht gefällt wird, muß ich Retourbillete austheilen. Ueberhaupt ist die Nacht ganz besonders für solche gerichtliche Schauspiele geschaffen,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853). Leipzig: Ernst Keil, 1853, Seite 534. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1853)_542.jpg&oldid=- (Version vom 29.1.2018)