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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853)

und aller Himmelsstriche, aller Glaubensbekenntnisse und aller Farben, welche auf diese oder jene Weise in der Mildthätigkeit der Einwohner ihren – dürftigen – Lebensunterhalt suchen, und man hat im Großen und Einzelnen herrlichen Stoff zu einer Culturgeschichte aller Völker des Erdbodens, von dem fernen Indien bis zu dem luxuriösen aber unglücklichen Mexiko.

Es würde zu weit führen, wollte ich hier die Repräsentanten aller Nationen vorführen; ich beschränke mich deshalb heute nur auf zwei, die irländische und italienische, die in ihrer ganzen Erscheinung die am meist auffallenden in London sind.

Wenn Du in den Beistraßen der großen Weltstadt eine kräftige Figur siehst, welche mit wahrhaft stoischer Bedachtsamkeit an der Seite des Rinnsteins einherwandelt, gegen die Vorübergehenden eine kleine Schachtel mit Schwefelhölzern der allergemeinsten Art ausstreckt, die voraussichtlich Niemand annimmt, welche jedoch nöthigenfalls gegen Polizeimaßregeln wegen Bettelns schützen, zwölf gegen Eins! Du hast einen bettelnden Sohn Irlands vor dir! Es ist wunderbar, mit welcher Sorgfalt er alle Winkel und Ecken der Gasse durchforscht, und sobald sein Auge einen Gegenstand erblickt, der etwas Werthvolles enthalten könnte, sei es zusammengedrücktes Papier oder ein Haufen Kehrigt, so steht er still, dreht den verdächtigen Gegenstand erst zwei oder drei Mal nach allen Seiten hin mit dem Fuße um, und falls seine Neugierde noch nicht befriedigt ist, hebt er denselben bedächtig auf, prüft ihn sorgfältig nach allen Dimensionen und wenn er von einigem Werthe erscheint, dann verschwindet er in der ungeheuern Rocktasche, welche den ganzen einen Flügel einnimmt und, beiläufig gesagt, der einzige Theil des Anzuges ist, der stets in gutem Zustande erhalten wird. Dieser unterirdische Sack ist in der That ein wahres Ungeheuer; er nimmt Alles in seinen Tiefen auf und ist doch nie überfüllt. Die Ueberreste mancher Mittagsmahlzeit, als Fleisch, Kartoffel, Kohl, Brod ruhen hier mit abgenagten Knochen, alten Hufeisen, leinenen Lumpen und anderen Raritäten, welche die Tageswanderung gerade bescheert, in süßester Harmonie zusammen.

Der Anzug besteht, um von Oben anzufangen, aus einem alten bodenlosen Hute, der während der Nacht als Kopfkissen dient und der von manchen Stürmen und Schlachten zu erzählen weiß; dann aus einem Rocke mit langen Schößen, der gewöhnlich an den Ellenbogen zerrissen und auf dem Rücken bedeutend offenherzig ist, und der, seit er die Hände des Schneiders verlassen – aus Furcht ihm zu schaden – nie die Bürste gekostet hat. Auch wird derselbe niemals durch einen Flicken verunstaltet, sondern so lange er auf dem Körper festhalten will, wird er Tag und Nacht getragen und dann, wenn sich endlich eine mildthätige Seele, vielleicht die trauernde Wittwe eines Handwerkers, des alten zerfetzten Veteranen erbarmt und Paddy[1] mit dem Arbeitsrocke ihres verstorbenen Ehemannes beglückt, wird er für ein jüngeres Mitglied der Familie zurechtgestutzt. Die Hosen sind gewöhnlich im höchsten Grade der Auflösung begriffen und die Sohlen der schweren, nie gereinigten Schnürstiefeln häufig mit Bindfaden, die um den Fuß laufen, an das Oberleder befestigt. Dies ist jedoch nur ein sehr mangelhaftes Mittel, Himmel und Erde zusammenzuhalten; denn jedesmal, wenn der Fuß den Boden verläßt, um einen Schritt vorwärts zu machen, bildet sich – vielleicht vermöge der Gravität unsers Planeten – ein ungeheurer Abgrund, in welchem die Zehen in ihrer natürlichen Grazie spielen. Der einzige Theil des Anzuges, welcher einigermaßen auf unsern Respekt Anspruch machen kann, ist das Hemde, welches stets sauber und dessen breiter Kragen mit einiger Sorgfalt über die schmutzige – gelbe – Weste geschlagen ist und merklich gegen den wettergebräunten bloßen Hals absticht. Dies ist in Bezug auf die äußere Erscheinung ein allgemeines Bild eines irländischen Bettlers, wie sie täglich zu vielen Hunderten in den Straßen Londons zu finden sind. Der große Unterschied zwischen dem Proletarier Irlands und den Bettlern anderer Nationalitäten besteht namentlich darin, daß die letzteren im Allgemeinen nicht ohne Kampf gefallen sind; ihre Physiognomie spricht deutlich von vielen und gewaltigen Gemüthsbewegungen, Leidenschaften und sündhaften Lastern.

Ganz anders ist es mit Paddy, sein häufig sehr wohlgenährtes Gesicht ist ein treffliches Bild des gutmüthigen Indifferentismus, der sich an Elend gewöhnt hat. Der Irländer ist nicht gefallen, sondern als Bettler geboren. Eine Nationalität, welche wohlgenährte Bettler aufzuweisen hat, muß in der Scala der Demoralisation in der That weit vorgeschritten sein, und das ist der Fall mit Irland. Irland ist im höchsten Grade elend, schlecht bebaut, gespalten, eine Beute des Hungers und des Parteikampfes. Welches ist die Macht, die seine Lage ändern könnte und sollte? Es ist England. Als England die Regierung Irlands an sich riß, war es pflichtgemäß gebunden, gut zu regieren, und wenn es – als es häufig gesagt wird – diese Regierung deshalb übernahm, weil sie zur Zeit äußerst schlecht war, so war es doppelte Pflicht, fortan besser zu regieren. Dies ist nicht geschehen. Das ganze Regierungssystem in Bezug auf Irland hat nur in zwei Dingen bestanden: Vernachlässigung und Unterdrückung. Der höchste Grad der englischen Staatspolitik ist von jeher gewesen: „Nichts zu thun“; und wenn sie sich von Zeit zu Zeit ermunterte, so war es nur nach Art eines schlaftrunkenen Dorfschulmeisters, welcher in seinem Lehnstuhle schnarcht und, durch den Tumult seiner Schüler aufgeweckt, plötzlich aufspringt, mit seinem Stocke wüthend um sich schlägt und nachdem er ein halbes Dutzend junge Ruhestörer in seinen Keller, sein Gefängniß geworfen hat, ruhig weiter schläft. Der einzige Weg, Irland zu beruhigen, war: die Ursachen der Unruhe, den leicht zündbaren Stoff zu entfernen. Das Betragen Englands gegen Irland gleicht dem Verfahren jener weisen Kinderfrauen, welche ihre Pflegebefohlenen, die vor Hunger schreien, auf den Rücken schlagen und dann schütteln, anstatt ihnen etwas Substanzielles, Beruhigendes und Tröstendes zu bieten.

  1. Der Spottname für Irländer.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853). Leipzig: Ernst Keil, 1853, Seite 410. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1853)_410.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)