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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853)

eben begonnene Jahr zu treffen. Er ging in Gedanken versunken immer weiter und weiter, ohne zu bemerken, daß er vom richtigen Wege abgekommen war. Als er zurückzukehren versuchte, fand er, daß er durch Gänge hindurchschritt, die ihm bis jetzt noch ganz unbekannt gewesen waren. Zuweilen sah er sich genöthigt, auf Händen und Knieen weiter zu kriechen, um die Richtung, die er für die richtige hielt, zu verfolgen, aber es war ihm nicht möglich, einen begangenen und erkennbaren Theil der unendlichen Grotte aufzufinden. Endlich ging ihm das Licht aus und es wäre vollkommen nutzlos, übrigens aber auch fast unmöglich für ihn gewesen, den Weg noch weiter fortsetzen zu wollen. Er setzte sich lieber, entschlossen zu warten, denn er wußte, daß man ihn vermissen und Nachforschungen nach ihm anstellen würde. Es war dies das Klügste, in der That aber auch das Einzige, was er thun konnte.

So blieb er die ganze Nacht im Finstern, nicht wissend wo, auf dem Boden der Höhle sitzen. Am nächsten Morgen, als Madame Puy, seine Mutter – denn Herr Puy ist unverheirathet – fand, daß er nicht am Abend vorher wie gewöhnlich nach Lille zurückgekehrt war, kam sie sogleich auf die Vermuthung, daß er sich in den Steinbrüchen verirrt habe. Madame Puy lebt jetzt noch und sagte mir, sie werde diesen Tag und die darauf folgenden in ihrem Leben nicht vergessen. Sie forderte sogleich ihre Freunde und Nachbarn auf, die Arbeitsleute bei dem Nachsuchen zu unterstützen, und alle folgten dieser Aufforderung, wobei einige selbst in nicht unerhebliche Gefahr geriethen. Der Mann, der mich in den Champignonbeeten herumführte, lief in seinem Eifer, seinen vermißten Herrn aufzufinden, selbst dreizehn Stunden lang in der Irre herum, obschon er mit Lichtern wohl versehen war.

Der Tag verging und Herr Puy war noch immer nicht aufgefunden. Die ganze Bevölkerung von Lille nahm an dem Vorgange den lebhaftesten Antheil und die öffentlichen Behörden leisteten allen nur möglichen Beistand. Die Soldaten der Garnison wurden in die Höhlen hinuntercommandirt, Trommeln geschlagen und Gewehre abgefeuert, aber es ist eigenthümlich, daß in diesen fürchterlichen Höhlen auch das stärkste Geräusch nicht weit hörbar ist. Zollwächter wurden von der Grenze herbeigeholt und brachten ihre großen feinspürenden und wohldressirten Hunde mit. Anstatt aber Herrn Puy ausfindig zu machen, hätten die Hunde sich beinahe selbst verirrt und besonders der eine, gerade der größte und schönste, gerieth auf solche Abwege, daß er hätte umkommen müssen, wenn er nicht endlich wieder entdeckt worden wäre. Man band das eine Ende von verschiedenen Knäueln Bindfaden in den besuchteren Theilen der Höhle fest und ging dann dieselben weiter aufrollend nach entgegengesetzten Richtungen, in der Hoffnung, daß der Verirrte zufällig auf einen dieser Fäden stoßen werde. Andere drangen so weit vor, als sie sich getraueten und nahmen dabei Strohbündel mit, aus welchen sie in kurzen Zwischenräumen einzelne Halme auf den Boden legten, so daß die Spitze oder Aehre den Weg andeutete, den sie zu gehen hatten, um dieser Schreckenshöhle wieder zu entrinnen, denn es stand nicht zu fürchten, daß hier der Wind oder ein Thier oder ein menschlicher Wanderer diese schwache und leichte Spur wieder verwischen werde. Kurz, es ward Alles gethan, was Muth und Freundschaft an die Hand gaben, aber drei Tage lang blieb die menschenfreundliche Spürjagd vergebens.

Nachdem Herr Puy drei ganze Tage lang verschwunden gewesen, ward er endlich von einem kühnen jungen Manne an der Stelle aufgefunden, wo er beschlossen hatte, zu bleiben, bis man ihn suchen würde. Dieser Platz war gerade unter der Mühle eines benachbarten Dorfes und weit, weit von dem Ausgangspunkte entfernt. Herrn Puy’s erste Frage war, wie lange er hier zugebracht habe, denn er hatte kein Mittel, den Flug der Zeit zu messen. Er war ganz erstaunt, als er hörte, daß er drei ganze Tage in dieser Einsamkeit ohne Speise und Trank zugebracht hatte. Es war vielleicht ein Glück für ihn, daß er in diesem Zustande von Unwissenheit hatte verharren müssen, weil er außerdem, da die Stunde der Erlösung sich immer weiter hinauszog, der Verzweiflung anheimgefallen sein würde. Bei alledem und trotz aller angewendeten Sorgfalt verstrichen sechs Monate, ehe er von der Krankheit, die ihn befiel, wieder genas und es dauerte wenigstens ein Jahr, bevor er alle Folgen dieses Unfalles überwunden hatte.




Literatur. Von dem in England vielgelesenen, in 4 Monaten 13 Mal neu aufgelegten Buche: die weite, weite Welt von Elisabeth Wetherell ist in Leipzig bei Kretzschmar eine eben so gewandte wie seitens des Verlegers gut ausgestattete illustrirte Uebersetzung erschienen, die wir allen Freunden derartiger Lektüre als die beste von allen anempfehlen können. Für gläubige Gemüther, für junge unerfahrene in’s Leben tretende Jungfrauen, für besorgte Mütter und Erzieherinnen enthält das Buch im Gewande einer anziehenden Erzählung viele schöne, ächt christliche Samenkörner, die, auf guten Acker gestreut, wohl gute Früchte tragen können. Das Buch bildet übrigens die 1. Abtheilung einer Bibliothek illustrirter Erzählungen für christliche Familien. Die Betonung ist hier auf christliche zu legen. – Unter den vielen Anthologien deutscher Dichterwerke nimmt jedenfalls der in Berlin erscheinende: Deutsche Dichterwald von Opitz bis Lenau, mit den ersten Rang ein. Nicht nur, daß die Sammlung sehr vollständig, und was die Auswahl anlangt, mit Geschmack und Kritik angefertigt ist; sie giebt zugleich eine ganz verständige Literaturgeschichte in Biographieen, von denen einzelne wirklich kleine Meisterstücke der Charakteristik sind. Wir wünschen dem Unternehmer (der einzelne Band von 23 Bogen kostet nur 15 Ngr.) den besten Fortgang.





Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853). Leipzig: Ernst Keil, 1853, Seite 404. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1853)_404.jpg&oldid=- (Version vom 11.2.2023)