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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853)

Blätter und Blüthen.

Weiße Sklaven in England. Onkel Tom und die großartige Petition der englischen Damen hat einzelne Männer und Zeitungen auf den Gedanken gebracht, zuzusehen, ob es innerhalb der weiten Grenzen englischer Besitzungen nicht auch etwas abzuschaffen gäbe und ob alle englische Unterthanen wirklich so frei seien, daß man sich schon genöthigt sähe, sich um die Freiheit in andern Welttheilen zu bekümmern.

Da ist’s denn bald herausgekommen, daß England in seinen indischen Besitzungen allein wenigstens zwanzigmal so viel Sklaven habe als Amerika. Ein Mann in Manchester, Mr. Bright, hat in einer öffentlichen Rede bewiesen, daß auf jeden englischen Sklaven in Indien jährlich blos eine halbe Elle Kattun komme, in Amerika auf jeden schwarzen Sklaven 10 Ellen. In Amerika behandle man die Sklaven wenigstens als Hausthiere und als Arbeiter, die Geld machen und deshalb gut gehalten werden müssen. Die Engländer in Indien dagegen nähmen den unterjochten Indiern Alles, was sie eben kriegen könnten, ohne sich weiter darum zu kümmern, daß man ihnen auch künftig wieder etwas nehmen könne.

Doch das ist zu weit gegangen. England hat innerhalb seiner engern Grenzen in Europa auch mehr weiße Sklaven als Amerika schwarze. Dahin gehören fast alle Fabrikarbeiterinnen und Mädchen, die mit der Nadel arbeiten, auch viele Pächter, Buchhalter und Kaufmannsdiener, vor Allem aber die Londoner Omnibuskutscher mit ihren Conducteurs. Wenigstens 3000 Omnibus (ohne die Cabs und Droschken, die bis zu 12,000 steigen) durchkreuzen die ungeheuren Ausdehnungen Londons alle Tage von 8 Uhr Morgens bis 12 Uhr des Nachts. Jeder Omnibus beschäftigt durchschnittlich 3 Personen. Manche Omnibus-Eigenthümer haben 4–800 Pferde. Zu jedem Omnibus werden 12–14 Pferde gehalten. Jedes Pferd macht durchschnittlich nur eine große Tour durch London und hat außerdem wöchentlich einen Ruetag. Die Pferde, mit theurem Gelde bezahlt, werden gut behandelt, aber die Kutscher und Conducteure, die umsonst zu haben sind, ohne Ruh und Rast abgequält, bis sie vor Krankheit und Alter nicht mehr können. Dann steigen andere auf ihren Platz und Niemand bekümmert sich mehr um sie. „Ruhen Sie aus, wenn Sie todt sind!“ gab ein Omnibus-Eigenthümer einem seiner Kutscher zur Antwort, als er ihn um einen „Sonntag“ zum Ausruhen bat. Jeder Omnibus befördert durchschnittlich 300 Menschen täglich, 2000 die Woche, alle 3000 also 6 Mill. wöchentlich oder 300,000,000 im Jahre, ein Drittel so viel, als die ganze Erde Bewohner hat. Die Einnahmen daraus betragen jährlich etwa 28 Millionen Thaler, die ein Kapital von etwa 210 Millionen Thalern repräsentiren. Ungefähr 11,000 Menschen sind die Sklaven dieses so angelegten Kapitals, die Meisten mit Weibern und Kindern, mittelbar also 30–40,000 Sklaven in einer einzigen Geldverwerthungsanstalt einer einzigen englischen Stadt. Viele Männer sehen ihre Kinder Jahre lang blos schlafend, im Bett.

Die Omnibuskutscher werden von „Zeithaltern“ (time-keepers) controlirt. Der Time-Keeper ist ein Mann, der Jahre lang alle Tage ohne Ausnahme von 9 Uhr Morgens bis 11 Uhr Nachts ununterbrochen an einer bestimmten Straßenecke steht oder auch zuweilen sitzt und die Zeit verzeichnet, in der jeder Omnibus vor ihm vorbeifährt. Er frühstückt, ißt Mittag und Abendbrod immer auf der Straße, an derselben Ecke, immer allein, ohne Unterschied, mag die Sonne auf seine Schüssel brennen oder Regen und Schnee hineinfallen. Auf seine Familie, seine geistigen Bedürfnisse, seine Ansprüche als Mensch wird nie die geringste Rücksicht genommen. So ist’s mit dem Kutscher, so mit dem Conducteur.

Der Begriff der Sklaverei ist sonach in dem freien Lande sehr vollkommen ausgebildet und verwirklicht.

Wären die Leute Geld werth, wie die Pferde, der Eigenthümer würde sie wohl ziemlich eben so menschlich behandeln, wie diese Pferde; er würde finden, daß die Leute besser gedeihen, wenn man ihnen zuweilen einen Ruhetag gönnte. Aber da sie kein Geld werth sind (finden sich doch zu der Stelle jedes unbrauchbar Gewordenen ganz umsonst Dutzende – ), so verbraucht er sie ohne die geringste Rücksicht auf die Folgen, denen die Opfer unterliegen.

Die Heiligung des Sabbaths ist in unserer modernen Zeit eine Heuchelei, ein Spott geworden; die Nothwendigkeit des Sonn-, Feier- und Ruhetags aber um so ernster und dringlicher. Die einförmige Berufs- und Fabrikarbeit zerstört den Menschen geistig und körperlich, wenn er sich nicht öfter erholen, erheben und an der Fülle des Lebens mit andern Bildern, als denen seiner dunkeln Arbeitshöhle, bereichern kann. Ein Volk ohne Sonn- und Feiertage muß bald moralisch und materiell versinken. Jeder muß in bestimmten Fristen eine Zeit leben, wo er seinen von Arbeit gekrümmten Rücken erheben, sein müdes Auge aufschlagen kann zum blauen Himmel und weiden auf der grünen Erde. Er muß sich erholen, erheitern und Welt und Leben überschauen können, um nicht zu erblinden und zu verdummen in einem ewigen, einförmigen Arbeitskäfig.

Aber freilich selbst der eifrigste Sabbatharianer wagt es dieser industriellen, dampfbeschwingten, golddurstigen Zeit gegenüber nicht mehr, auf eine absolute Sonntagsfeier zu bestehen. Einige und zwar nicht wenige, müssen auch Sonntags arbeiten, wenn diese moderne Welt nicht jeden Sonntag so aus den Fugen gerathen soll, daß man allemal die ganze Woche zu thun hätte, sie nur wieder in Ordnung zu bringen. Dienstboten, Bäcker, Zeitungssetzer, Postbeamte, Seeleute, Aerzte werden immer auch des Sonntags arbeiten müssen. Man wird nun allerdings auch nicht

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853). Leipzig: Ernst Keil, 1853, Seite 381. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1853)_381.jpg&oldid=- (Version vom 13.4.2020)