Seite:Die Gartenlaube (1853) 356.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1853)

schmücken – er blickte schärfer hin – diese reizenden Formen und anmuthigen Bewegungen, diese blonden Locken hatte er schon einmal gesehen – jetzt hob sie das liebliche Antlitz auf – er erkannte sie wieder und stürzte auf sie zu – es war das Mädchenbild, das wie ein Schutzgeist ihm vorgeschwebt! –

Sie erschrak über sein unerwartetes Kommen – er hatte sie hier nicht mehr treffen sollen, aber die Stille war zu heilig zu einer schüchternen Flucht oder einem conventionellen Gruß; sie neigte sich grüßend vor ihm und sagte: „Sie werden nicht oft das theure Grab besuchen können und der Todtengräber ist nachlässig; ich werde es mit unter meine Hut nehmen.“ Er reichte ihr die Hand über das Grab hinüber in einer halbknieenden Stellung, und es war ihm in diesem Augenblick, als habe ihm sein Vater vergeben – als sei jetzt jede Schuld gesühnt durch diese lichte Erscheinung an seinem Grabe. Mit Blick und Händedruck sagte er ihr beredteren Dank, als es mit Worten möglich gewesen wäre. Endlich fragte er:

„Aber daß ich Sie hier wiedersehe. Fräulein Agnes?“

„Mein Vater ist hier Pfarrer,“ entgegnete sie einfach.

„Ehe ich dies Dorf wieder verlasse,“ antwortete er, „wollte ich noch den Herrn Pfarrer besuchen, um ihm zu danken, daß – –“ er konnte im Augenblick keine Worte finden und Agnes errieth, daß er vergeblich die passenden suchen werde, um dafür zu danken, daß sein Vater, allerdings nur durch die milden Gesinnungen des ihrigen, ein ehrliches Begräbniß erhalten. Sie lud ihn ein, sie in das Pfarrhaus zu begleiten, wo ihr Vater im Garten eben frühstücke. –

Im vorigen Sommer war Agnes in Ludolf’s Wohnort einige Tage bei einer verwandten Familie zu Besuch gewesen, die bald darauf diese Stadt verlassen hatte. Ludolf hatte sie bei einer Landpartie kennen lernen, die von einer heitern Gesellschaft für den ganzen Tag angeordnet war. Er hatte nichts von ihr erfahren, als ihren Namen Agnes Meinau und daß sie die Tochter eines Pfarrers sei. Später fehlte die Gelegenheit sie wiederzusehen oder auch nur nähere Erkundigungen über sie einzuziehen. Aber an jenem einen Tag war er fast nicht von ihrer Seite gekommen und hatte tief in ihrer Seele gelesen. Sie war ihm als das verkörperte Ideal des Ewig-Weiblichen erschienen, von dem er bisher nur geträumt. Alle andern Mädchen waren ihm von da an gleichgültig – aber allmälig verlor sich die erste stürmischere Wallung und er gewöhnte sich daran, Agnes wie eine liebliche Erscheinung zu betrachten, die ihm einmal geworden und dann für immer entrückt sei. Nun ward sie ihm plötzlich an diesem Grabe.

Agnes hatte oft mit dem gleichem Entzücken wie er an jenen schönen Tag an seiner Seite gedacht – aber auch sie sah darin nichts als die süßeste Erinnerung ihres Lebens. Da nannte man plötzlich nach einem Jahre seinen Namen als den Sohn des unglücklichen Selbstmörders, den man hier begraben hatte. Sie empfand die lebhafteste Theilnahme für dieses Familienunglück, und da sie eines Abends von ihrem Fenster aus eine schlanke Männergestalt an dem Grabe knieen sah, erkannte sie Ludolf, und eilte am folgenden Morgen, ihm eine schmerzliche Freude zu machen durch ihre Schmückung des väterlichen Grabes.

Ludolf war von dem Pfarrer mit Theilnahme und Herzlichkeit begrüßt worden und zu längerem Verweilen gastfrei eingeladen. Er vermochte auch nicht, sich von dem wiedergefundenen Mädchenbild, das ihm indeß nur immer in der Phantasie vorgeschwebt hatte, schnell wieder loszureißen und blieb bis zum Nachmittag. Da er Abschied nahm, versprach ihm Agnes noch einmal, getreue Pflegerin des Grabes zu sein und der Pfarrer lud ihn ein, so oft es ihn zu dieser Stätte ziehe, das Pfarrhaus als seine Wohnung zu betrachten. –

Ludolf legte den Rückweg erst einige Stunden zu Fuß zurück und dann bediente er sich der Eisenbahn. Noch nie war ihm in diesen vier Wochen so leicht um’s Herz gewesen wie jetzt! Ihm war, als müsse der Vater, der mit dem doppelten Verbrechen des Betrugs und des Selbstmordes aus der Welt gegangen, nun die Vergebung der ewigen Liebe empfangen haben, seit an seinem Grabe ein Engel in holder Weibesgestalt Wache gehalten – und ihm war, als dürfe er selbst sein Auge in liebender Anbetung zu dem Engel erheben, der dem Vater die Missethat vergab und an seinem Grabe dem Sohne mit tröstendem Mitgefühl erschien. Neben diese stille Hoheit einer makellosen Jungfrau stellte er das abschreckende Bild einer Meta von Zahring, die in und an sich selbst jede Spur des Ewig-Weiblichen vernichtet hatte, und er wußte, wenn es seinem Vater vergönnt war, aus den himmlischen Höhen in dem Augenblicke herunterzuschauen, wo an seinem Grabe Agnes und Ludolf sich begegneten –: so segnete er jetzt den Sohn und vergab ihm, daß er das frevelhafte Opfer, was er gefordert, ihm versagt hatte.

Aus dieser höhern Stimmung ward Ludolf unangenehm durch einen Brief gestört, den er bei seiner Nachhausekunft vorfand. Er war von der Stadtpost gekommen, von fremder Hand und ohne Unterschrift. Er enthielt nur die Worte:

„Hören Sie den Rath eines Freundes, der sich nicht nennen und Ihnen nicht mehr sagen darf: Wenn Ihnen Ihre Ehre und Freiheit lieb ist, so eilen Sie, sich mit Fräulein von Zahring zu versöhnen. Machen Sie Ihr Unrecht an ihr wieder gut und ihr mildes Herz wird Ihnen vergeben; außerdem wird ihre Ehre sie zwingen, die Mittel zu benutzen, welche ihr zu Gebote stehen, sich vor der Welt zu rechtfertigen und an Ihnen zu rächen.“

Ludolf begriff nicht, von wem diese Warnung kam. Er verstand die Worte nicht ganz, aber er hatte schon zuweilen daran gedacht, daß Meta ihn tödtlich hassen werde, da er sie verschmäht, und eine Gelegenheit suchen, sich dafür an ihn zu rächen. Aber er war zu stolz, sich vor einem Weibe zu fürchten, und wie tief er vor einer edeln unentweihten Weiblichkeit sich auch neigen konnte – der entarteten vermochte er nicht anders als mit dem Stolz männlichen Selbstgefühls zu begegnen. Er ließ den anonymen Brief unbeachtet.

Es waren wieder einige Wochen vergangen. Ludolf

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1853). Leipzig: Ernst Keil, 1853, Seite 356. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1853)_356.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)