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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853)

des kaiserlichen Statthalters in Kanton das Signal zum allgemeinen Aufstande hätte sein sollen.

Dieser allgemeine Aufstand der Ming-Leute, wie sich die gegen die Mandschu-Dynastie Verschworenen nennen, erfolgte zwar nicht, aber eben so wenig gelang es der Regierung, die ihr gefährliche Bewegung zu unterdrücken, vielmehr griff dieselbe in den südwestlichen Provinzen immer mehr um sich, dehnte sich über die nördlichen und östlichen Lande aus und verpflanzte sich an die Küsten, die nun von Seeräubern im Laufe des Jahres 1849 so unsicher gemacht wurden, daß der Handel gänzlich in’s Stocken gerieth und die Engländer zu Hülfe gerufen werden mußten, denen es freilich in kurzer Zeit gelang, die Piraten unschädlich zu machen. Indessen schon im Jahre 1850 begann der Kampf der Ming-Leute in verschiedenen Provinzen mit solcher Entschiedenheit und so glänzenden Erfolgen, daß schon im Mai desselben Jahres der Himmelssohn auf dem Drachensitze in Peking in Erlassen an das Volk seinem Zorn über die Rebellen Luft machte, sich bitter über seine Generale und Beamten beklagte, dem Volke die großen Summen vorrechnete, die er auf Unterdrückung des Aufstandes bereits verwendet, und unter Verheißung seiner Gnade dasselbe zu den außerordentlichsten Anstrengungen aufforderte. Diese kaiserlichen Appellationen an das Volk hatten den erwarteten Erfolg nicht, die Rebellen erfochten Siege auf Siege und befanden sich schon im September des genannten Jahres in so großem Vortheile über die kaiserlichen Truppen, daß ihr Führer Tiente (der große Himmelssohn), der sich auch zuweilen Tai-ping (der große Friedensfürst) nennt, sich zum Kaiser ausrief.

Tiente, der Kaiser und Heerführer der Ming-Leute, stammt, wie er selbst sagt, in gerader Linie von der im Jahre 1644 durch die Mandschu vertriebenen Ming-Dynastie, deren Mitglieder, trotz der zweihundertjährigen Herrschaft der Usurpatoren, sich diesen niemals unterworfen und nie eine Gunst von ihnen verlangt. Er selbst habe stets im Verborgenen gelebt, bis ihm die Tyrannei der Tartaren nicht mehr Ruhe gelassen; darauf habe er sich entschlossen, mit seinen Kriegern den Kampf zu beginnen, die Tsing-Dynastie zu stürzen, den alten Glanz des Reichs zu erneuern und allgemeinen Frieden herzustellen. Mit diesem großen staatlichen Zwecke verfolgt Tiente aber noch einen religiösen, und das ist das bei weitem Wichtigste in dem Auftreten dieses chinesischen Helden.

Die Proklamationen, worin sich die religiösen Ansichten Tiente’s aussprechen, lassen, wenn sie wirklich mehr sind als Mittel zum Zweck, kaum noch einen Zweifel daran, daß die Ming-Leute wie ihr Führer längst dem Christenthume angehören, und daß, wenn Tiente siegt und die Reformen, welche er in politischer wie religiöser Beziehung verheißt, wirklich zur Ausführung bringt, eine ganz neue Zeit über China anbrechen werde. Tiente fordert zur gänzlichen Ausrottung des Buddha- und Tao-Glaubens, zur Vernichtung der Priester dieser Lehren, so wie zur Zerstörung aller Götzentempel auf und erklärt selbst die dem Tode verfallen, die zum Bau der Götzentempel beigetragen haben. Er verehrt den „großen Gott, den himmlischen Vater, der in sechs Tagen Himmel und Erde geschaffen, das Land und das Meer, die Menschen und die Dinge;“ er nennt diesen großen Gott einen „geistigen Vater, allwissend, allmächtig und allgegenwärtig, dessen große Macht alle Völker unter dem Himmel erkennen.“ Nach diesem Bekenntnisse heißt es in der Proklamation weiter: „Indem wir die Urkunden vergangener Zeiten verfolgen, finden wir, daß seit der Schöpfung der Welt der große Gott zu verschiedenen Malen sein Mißvergnügen kund gethan hat, und wie kommt es, daß Ihr davon Nichts wisset?“ Zuerst offenbarte der große Gott seinen Zorn, indem er durch 40 Tage und 40 Nächte einen gewaltigen Regen herabsandte und dadurch die Fluth erzeugte. Bei einer zweiten Gelegenheit zeigte er sein Mißvergnügen und kam herab, um Israel aus den Händen der Aegpyter zu retten. Bei einer dritten Gelegenheit zeigte er seine Majestät, als die Verkörperung des Retters der Welt, des Herrn Je-su, geschah im Lande Judäa, und er duldete für die Erlösung des Menschengeschlechts. Auch in spätern Zeiten hat der große Gott seine Entrüstung offenbart und im Jahre Ting-yu (1837) sandte er einen himmlischen Boten[1] mit dem Auftrage, die Schaaren des bösen Feindes zu vernichten. Weiter hat er den himmlischen König[2] gesandt, die Zügel der Regierung zu ergreifen und das Volk zu retten.“

Man sieht aus dieser Proklamation, daß der Führer der Ming-Leute mit den Lehren des alten und neuen Testaments vertraut ist, und daß er dies offen ausspricht, beweist hinlänglich, daß seine Anhänger denselben Ansichten huldigen. Erkennt man nun hierin deutlich, wie groß bereits der Einfluß der europäischen Völker, die seit einem Decennium mit China verkehren, geworden ist, so geht auch aus der Organisation der Streitmacht Tiente’s hervor, daß er sich mit europäischer Taktik und Kriegführung genau bekannt gemacht hat und eben deshalb den kaiserlichen Truppen in jeder Weise überlegen ist. Während der Jahre 1851 und 1852 sind die Ming-Leute in allen Gefechten Sieger geblieben und haben, sobald sie eine Provinz eingenommen, auch dort sofort die Einrichtungen getroffen, die ihr Führer verheißen und für die Wohlfahrt des Volkes für nöthig hält. Aus der südwestlichen Spitze des Reiches ist der Aufstand nach und nach bis zum Nordosten vorgedrungen, und im März dieses Jahres hat sich der Himmelssohn in Peking so tief herablassen müssen, die Hülfe der Vertreter von England, Frankreich, Nordamerika und Hamburg anzusprechen. Eine direkte Einmischung der Europäer ist nicht erfolgt, vielmehr haben sich dieselben nur darauf beschränkt, das Eigenthum europäischer Kaufleute zu beschützen, was aber nicht einmal nöthig sein dürfte, da die Ming-Leute so vorsichtig sind, die Interessen des Fremden nicht zu verletzen. Dem weiteren Vordringen der Kriegsmacht

  1. Dies deutet ohne Zweifel auf den bekannten Missionär Gützlaff, der vierundzwanzig Jahre hindurch mit rastloser Thätigkeit für die Verbreitung des Christenthums in China wirkte, und der auch mit Tiente in enger Verbindung gestanden haben soll.
  2. So nennt sich Tiente selbst.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853). Leipzig: Ernst Keil, 1853, Seite 291. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1853)_291.jpg&oldid=- (Version vom 12.4.2020)