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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853)

Irrthume befangen doch ein vortrefflicher Mensch sein kann.“

Es geschah, wie die Brüder verabredet hatten. Ganz allmälig entledigten sie sich des Zwanges, welchen sie sich im Betreff der Speisen aus Achtung vor den religiösen Vorurtheilen ihrer Mutter aufgelegt hatten. Ebenso unterließen sie gewisse andre Gebräuche, die bisher wenigstens zu Hause von ihnen beobachtet worden waren. Man ruhte nicht mehr am Sabbath, sondern am Sonntage von den Mühen der Woche. Veilchen sah das Alles mit stillem Erstaunen, doch da keiner ihrer Oheime ein Wort über diese Veränderungen verlor, schwieg sie auch und that bald wie sie.

Weihnachten kam heran. Wie oft hatte Veilchen in frühern Jahren mit leuchtenden Augen und pochendem Herzen die von Christbäumen erleuchteten Fenster der Nachbarhäuser angesehen und wohl gar ein jauchzendes Aufschreien der beschenkten Kinder mit scharfem Ohre aufgefangen, aber stets hatte ihre Freude einem bittern Gefühle Platz gemacht – was ging Christus sie an?

Mit ähnlichen Empfindungen, wenn dieselben auch nicht mehr so stark wie einst sich geltend machten, da sie über die frohen Täuschungen der Kindheit hinaus war, ging Veilchen auch jetzt am heiligen Abende aus ihrer Nähstunde nach Hause. Sie öffnete die Thüre und – o welche Ueberraschung! Inmitten der Stube stand ein Tisch und auf demselben, in einem Klotze befestigt, ein kleines Christbäumchen. Die Oheime waren mit schmunzelnden Gesichtern beschäftigt, die Wachslichtchen an demselben anzuzünden und hier und da noch ein Zuckerherz, eine vergoldete Nuß oder einen versilberten Apfel anzuhängen. Auf dem Tische vor dem Baume lagen noch allerhand Geschenke in einem Korbe. Beim Geräusche, welches das Oeffnen der Thüre verursachte, wandten sich beide Männer von ihrer eifrigen Beschäftigung ab und sahen ihre Nichte bewegungslos und mit strahlenden Augen auf der Schwelle stehen.

„Nein, da ist sie schon, das böse Kind,“ sagte Moses lachend. – „Wir wollten sie überraschen und sie überrascht uns. Nun komme nur her, Du kannst Dir jetzt Deinen Baum selbst anzünden.“ – Und er rieb sich lächelnd die Hände.

Aber Veilchen warf ihren Beutel beiseite und eilte schluchzend, weinend und lachend zu gleicher Zeit, von einem Oheim zum andern und küßte und herzte jeden von beiden tausendmal. Dem guten Levi liefen die hellen Thränen über die Wangen und seine Hand zitterte, als er die übrigen Wachslichter anbrannte.

„Nun sieh, Veilchen, was Dir der heilige Christ bescheert hat,“ sagte Moses. – „Es ist freilich nicht viel, denn sonderbarer Weise sieht er bei der Vertheilung seiner Gaben immer den Geldbeutel der Alten an.“

O diese Herrlichkeiten! Kam der heilige Christ zum ersten Male zu Veilchen, so schien er auch alles nachholen zu wollen. Da gruben die wühlenden Hände des Mädchens eine schöne Tuchhaube mit Pelzverbrämung an’s Licht, dann folgte ein Biberrock, ein Umschlagetuch (der heilige Christ schien die Kälte draußen auch gemerkt zu haben), eine funkelnagelneue Schürze, ein Gebündel Stricknadeln und Garn, Röllchen mit Zwirn und Seide in allen erdenklichen Farben, eine Büchse mit Nähnadeln. Doch wer könnte die Kostbarkeiten alle herzählen? Als sie so ein Stück um das andere herausnahm und immer noch kein Ende werden wollte, schaute Veilchen bald den Korb an, bald die Oheime, und diese lachten bei jedem Griffe, den sie that, hell auf vor Vergnügen. Aber ganz unten am Boden des Korbes unter Aepfeln und Nüssen und Pfefferscheiben zeigten sich auf einmal zwei Bücher, in schwarzes Leder gebunden und mit Goldschnitt. Das Mädchen warf einen fragenden Blick auf die Männer, deren Gesichter auf einmal ganz ernst geworden waren. Moses nickte ihr zu als wolle er sie ermuntern, nur zuzugreifen. Sie that es zögernd und hielt in den Händen – ein neues Testament und ein Gesangbuch.

Und nun begann Moses in eindringlicher Rede dem tiefbewegten Mädchen auseinander zu setzen, wie er und seine Brüder, sobald sie zur Einsicht gekommen seien, stets die Absicht gehabt hätten, die jüdische Religion, welche sie als veraltet erkannt, zu verlassen und Christen zu werden; wie sie aber stets aus Liebe zu ihrer altgläubigen Mutter den Schritt unterlassen hätten, was vielleicht unrecht gewesen wäre, denn man solle Gott mehr lieben als die Menschen; wie Veilchen’s Vater nur durch seinen plötzlichen Tod gehindert worden sei, sie gleich bei ihrer Geburt taufen zu lassen, wie er beabsichtigt. Das letzte Hinderniß, die Rücksicht auf die Mutter, sei gehoben, Veilchen aber zugleich ein großes und verständiges Mädchen geworden, welches selbst die Entscheidung in der Sache geben könne.

Veilchen weinte sehr, die Warnung ihrer sterbenden Großmntter fiel ihr ein; mit schwerem Herzen versprach sie zu gehorchen.

„Davon kann keine Rede sein,“ sagte Moses. – „Gott behüte, daß ich Dir Zwang anthäte. Lerne das Christenthum kennen, wie Du das Judenthum kennst, dann prüfe und behalte das beste.“

„Nun kommt,“ nahm Levi das Wort. – „Jetzt wollen wir Weihnachten feiern, Nüsse knacken, Aepfel schälen und Kuchen essen. Ist das nicht ein herrlicher Abend? Das Bäumchen mit seinen Lichtern erhellt nicht nur die Stube, nein auch das Herz. Kommt, seid froh in seinem Namen, dessen Fest wir feiern.“

Moses traf Verabredung mit einem würdigen Geistlichen, und so hatte Veilchen dreimal die Woche Religionsstunde. Nicht lange dauerte es, so sehnte sie den Glockenschlag herbei, der sie zum Pfarrer führte, und auch dieser freute sich herzlich, wie er gestand, über seine gelehrige Schülerin. Was Moses vorausgesehen hatte, geschah: Veilchen kam selbst und erklärte ihren Entschluß, Christin werden zu wollen. Man bestimmte, sie solle an dem Confirmandenunterricht Theil nehmen, dann getauft und zugleich mit confirmirt werden.




Am ersten Pfingstfeiertage strömte eine ungewöhnlich große Menschenmenge in die Stadtkirche, darunter viele Mädchen in weißen Kleidern und angehende Jünglinge, die sich gar stattlich in den schwarzen Fräcken ausnahmen, denn es hatte sich das Gerücht verbreitet, es werde ein schönes Judenmädchen getauft.

Veilchen, die mit ihren Oheimen, zwei Freunden derselben und einem Rathsherrn, welcher die dritte Pathenstelle

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853). Leipzig: Ernst Keil, 1853, Seite 274. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1853)_274.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)