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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853)

dem Hauswesen fast allein vor. Dafür hütete die Alte sie auch wie ihren Augapfel und suchte sie nach Kräften zu entschädigen, daß sie ihr die Feierstunden opferte. Da erzählte sie ihr von den Wundern ihrer Vaterstadt Amsterdam, von den großen Kauffahrerschiffen und vom Meere; wie prachtvoll die Synagoge dort sei und wie groß die Zahl derer, die den wahren Gott verehren. Als die Kleine in das Alter trat, wo der Mensch gewöhnlich anfängt, für sein künftiges Leben zu lernen, verlangte Frau Heinemann von ihren Söhnen einen jüdischen Lehrer für ihre Nichte. Nur mit großer Mühe gelang es, sie davon abzubringen, Veilchen wurde wie andere Kinder in die Stadtschule geschickt. Nun mußte sie aber wenigstens aus der Religionsstunde wegbleiben, die Alte wollte sie selbst in ihrem Glauben unterrichten. Das arme Kind hatte doppelte Mühe, in der Schule mußte es das ABC lernen, und zu Hause sollte es bei der Großmutter die großschnörkeligen hebräischen Schriftzeichen unterscheiden. Nach der Mühe kam aber auch der Genuß, denn Frau Heinemann, die eine gute Erziehung genossen hatte, las mit dem Mädchen ausgewählte Stücke des alten Testamentes und erklärte die feinen Holzschnitte in dem Buche. Das waren denn gewöhnlich Feststunden für das gute Veilchen.

Es war ein trüber Novembernachmittag und die Dämmerung brach bereits herein. Veilchen hatte ihre Hausgeschäfte besorgt und setzte sich mit ihrem Strickzeuge zur Großmutter. Der Ofen, in welchem ein stattliches helles Feuer brannte, sang ein lustiges Lied und die Begleitung zu der Weise gab ein Topf mit brodelndem Kaffee, welchen Veilchen zur Erquickung der heimkehrenden ausgefrorenen Oheime beigesetzt hatte.

„Veilchen,“ sagte jetzt die Alte mit ganz veränderter Stimme, daß das Mädchen tief in ihr Herz hinein erschrack. – „Veilchen, ich muß euch jetzt verlassen; der Herr hat mich so eben zu sich gefordert. Aber bevor ich von dannen gehe, will ich Dich ermahnen: bleibe dem Glauben Deiner Väter treu und hüte Dich vor den Christen. Doch ich sehe es, sie werden Dich bereden. Meine Söhne sind wacker, aber ach! – ich verstehe die Welt nicht mehr – sie sind abtrünnig. Ich segne sie, doch Du, mein Herzblatt, höre nicht auf sie, wenn sie Dich verlocken wollen. Schwöre mir das zu, und Du wirst glücklich sein.“

Veilchen war aufgesprungen, aber das Entsetzen hatte sie der Sprache und des Gebrauchs ihrer Glieder beraubt.

„Fällst Du aber ab,“ fuhr die Alte mit ihrer geisterhaften Stimme fort, „so wird der Herr Dich strafen, wie – Deinen Vater. Ach, ich weiß es. Der Gott unseres Volkes wich zornig aus seinem Herzen und seine Stelle nahm Satan ein, der ihn in die Fluthen trieb. Bleibe dem Herrn der Heerschaaren treu, mein Kind. Die heilige Schrift, die mir einst mein Vater gab, als ich eine Jungfrau wurde und die stets mein Trost im Leben gewesen ist, sie sei Dein künftiger Führer. Und nun lebe wohl, mein goldenes Kind. Der Herr segne Dich und behüte Dich und halte seine starke Rechte über Dir immerdar und ewig.“

Veilchen hatte sich von der ersten Bestürzung erholt, aber sie konnte nichts thun, da die Großmutter ihre Hand krampfhaft fest hielt. Es wurde ihr immer länger und wehmütiger, und ihre Thränen flossen reichlich, während jene tief stöhnte. Endlich ließ die alte Frau ihre Hand los und machte eine Bewegung, als wolle sie jemanden umfassen, doch ihre Arme sanken sogleich schlaff herab. Ein letzter Seufzer und sie war verschieden. Jetzt übermannte das Entsetzen das junge Mädchen; sie verließ hastig das Zimmer und eilte die Treppe hinab, um ihre Oheime unten zu erwarten. Diese traten so eben zur Hausthüre herein. Wenige Worte genügten, sie von dem Geschehenen in Kenntniß zu setzen. Die wackern Söhne konnten weiter nichts thun, als ihrer Mutter den letzten Dienst erweisen, dann überließen sie sich ohne Zwang den Ausbrüchen ihres Schmerzes, den ihre kindlichen Herzen bei diesem schweren Verluste empfanden.

(Schluß folgt.)




G. G. Gervinus.

Es gibt wenig Namen, die, wie der Name Gervinus, seit mehr als zwanzig Jahren so eng mit deutscher Wissenschaft und deutschem Leben verwachsen sind; und wenn auch in Gervinus der Gelehrte größer ist als der politische Character, und zwar so, daß er als Gelehrter eine der ersten Zierden Deutschlands ist, so hat er sich doch auch als Politiker die allgemeine Achtung zu erwerben gewußt. Die bei tiefem und gründlichem Wissen stets vorhandene ruhige und leidenschaftslose Auffassung der Dinge fand sich bei ihm in hohem Grade, und mußte ihm selbst die Achtung seiner politischen Gegner – andere hat er nicht – zuziehen.

Geboren am 20. Mai 1805 zu Darmstadt sah sich Georg Gottfried Gervinus, seiner Neigung entgegen, von seinen Aeltern zum Kaufmann bestimmt und erhielt eine in diesem Sinne geleitete Erziehung. Er legte auch in seiner Vaterstadt die Lehrjahre zurück, und schien bereits mit dem Geschick ausgesöhnt, als der höhere Drang zum Studiren heftiger als je in ihm erwachte. Gervinus holte nun meist durch Selbststudium, das Versäumte nach und konnte bald darauf die Universität Heidelberg beziehen. Nach vollendeten Studien begegnen wir dem ehemaligen Kaufmannsdiener als Lehrer einer Erziehungsanstalt in Frankfurt a. M., in welcher Stellung er indeß nicht lange blieb, sondern nach Heidelberg zurückkehrte, um sich gänzlich dem akademischen Lehrberuf zu widmen. Eine außerordentliche Professur wurde ihm 1835 zu Theil, und schon im folgenden Jahre sah er sich als ordentlicher Professor der Geschichte und Literatur, an die Universität Göttingen berufen, wo er mit Dahlmann in ein inniges Freundschaftsverhältniß trat. Seines Bleibens sollte jedoch dort nicht lange sein, denn als der verstorbene Ernst August im Jahre 1837 den hannoverschen Thron bestieg und das bestehende Staatsgrundgesetz aufhob, befand sich Gervinus

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853). Leipzig: Ernst Keil, 1853, Seite 266. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1853)_266.jpg&oldid=- (Version vom 12.4.2020)