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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853)

der Thüre ihres Zimmers stand, von wo aus sie die Bahre erblicken konnte, und wie sie im Umsinken begriffen war. Er eilte herbei und fing sie auf; Moses gewann ebenfalls wieder Besinnung. Er winkte den Trägern, leise die traurige Last in’s Zimmer zu tragen und sandte dann Levi und die Magd nach Aerzten. Lange saß er vor der Leiche seines Bruders im finstern Brüten. Dann nahm er die Lampe und begab sich in die Krankenstube. Er fand die Amme nicht mehr vor. Mit einer bangen Ahnung trat er an das Bett der Wöchnerin; er neigte sich über sie – kein Athemzug – ihre Hand war kalt. Entsetzt holte er die an der Thüre zurückgelassene Lampe herbei: – seine Schwägerin war todt.

„Der Schrecken hat sie getödtet. Gott sucht unser armes Haus schwer heim,“ murmelte er und drückte ihr die Augen zu. Das Kind fing an zu wimmern. Er hob es auf und drückte es mit Thränen an seine Brust.

„Armes Wesen,“ sagte er mit gebrochener Stimme. – „Vater und Mutter hast Du schon beim Eintritte in die Welt verloren. Für die Mutter wird der Himmel sorgen, Väter sollst Du zwei haben.“

„Es ist vorbei,“ sagte Moses beim Eintreten in das Zimmer zu seinem Bruder, der ihm erwartungsvoll entgegentrat. – „Wir sind ruinirt. Reichardt hat geschworen, daß Ruben ihm nur den vierten Theil der Summe, also tausend Thaler gezahlt hat. Wir haben keinen Beweis, daß die ganze Summe abgetragen ist und müssen den Rest nachzahlen.“

Levi war unendlich bestürzt. Nach einer Weile schüttelte er den Kopf und sagte: „Ich hatte immer noch die geheime Hoffnung, daß Reichardt es nicht auf’s äußerste treiben würde, denn bei Gott! ich bin fest überzeugt, daß Ruben die ganze Schuld abgetragen und Reichardt einen Meineid geschworen hat.“

„Es drängte sich mir unterwegs ein Gedanke auf,“ nahm Moses mit zitternder Stimme das Wort, „den ich durchaus nicht bannen konnte. Du weißt, Ruben war am Morgen seines Todestages bei Reichardt; sollte ihn dieser nicht vielleicht durch das Ableugnen der empfangenen Zahlung zur Verzweiflung gebracht haben, so daß sich unser Bruder selbst –“

Sprich es nicht aus, das Schreckliche!“ fleht Levi. – „Auch ich habe in bittern Stunden daran gedacht. Gott allein kann hier das Wahre sehen und er läßt keinen Frevel ungerochen.“

„Jetzt muß vor allem unsere Sorge sein, unser ganzes Hab und Gut flüssig zu machen, denn Reichardt will den Rest seiner Forderung auf einmal und sogleich.“

„Wie!“ rief Levi, blaß vor Schrecken. – „Dreitausend Thaler sogleich bezahlen!“

„Nur durch meine dringendsten Vorstellungen, die selbst der Bürgermeister unterstützte, gelang es, wenige Wochen Aufschub von Reichardt zu erlangen. Wir müssen eben unsere Waaren, unser Hausgeräthe, kurz Alles zu Geld machen. Es ist besser, wir verkaufen selbst und behalten unsere Ehre, als daß man es uns verkauft und die Ehre auch verloren geht.“

„Weißt Du, Moses, die Mutter darf um Gottes willen nicht merken, daß wir – blutarm geworden sind; sie würde den Tod davon haben. Bei ihr muß alles bleiben, wie es ist.“

„Versteht sich. Sie muß ihre Chokolade Morgens forttrinken; sie ist von Jugend auf daran gewöhnt. Ich werde kein Bier mehr trinken.“

„Ich werde nicht mehr schnupfen und rauchen. Und unser armes Töchterchen, Veilchen? Sie braucht jetzt weiter nichts als die Mutterbrust, und die hat sie gefunden. – Höre, Levi, Du bist noch ein junger Mann, Du könntest heirathen, damit Veilchen eine rechte Mutter bekommt, die sie doch besser pflegen würde als unsere Base. Was meinst Du?“

Levi war roth geworden. „Nein, nein,“ sagte er, „das geht nicht. Aber warum willst Du nicht heirathen; Du bist nur fünf Jahre älter als ich und ein viel hübscherer Mann?“

„Du weißt, ich bin im Herzen kein Jude mehr; deshalb mag ich keine Jüdin. Eine Christin kann ich nicht heirathen, weil ich nicht getauft bin. Und das darf ich nicht, um unsere Mutter nicht tödtlich zu kränken.“

„Ist’s nicht bei mir dasselbe?“

„Einstweilen muß also Alles bleiben, wie es ist.“

„O, ich bin jetzt ganz getrost und muthig,“ sagte Levi etwas erheitert. – „Wir werden viel mit Schmerz entbehren, aber auch neue ungewohnte Freude kosten.“

„Gewiß, Levi. Doch wir müssen uns noch mehr einschränken. Unsere kleine Familie braucht wenig Platz, wir können die Hälfte unserer Wohnung abgeben.“

„Richtig. Auch die Magd ist übrig, eine Aufwärterin genügt.“

„Nun müssen wir auf einen Erwerb denken. Fällt Dir vielleicht etwas ein, Levi? Ich habe bei der Masse von Entwürfen, uns aus der gegenwärtigen Noth zu retten, noch nicht Zeit gehabt, an die Zukunft zu denken.“

„Unser bisheriges Geschäft können wir allerdings nicht fortführen; es fehlt uns an Capital und Credit. Wie wäre es, wenn wir ein Commissionsgeschäft errichteten? Die Leute kennen uns als rechtlich. Verdienen wir auch im Anfange nur wenig, so macht es sich wohl mit der Zeit, wenn man an uns einige Gewandtheit neben der Rechtlichkeit wahrgenommen hat.“

„Die Sache ist nicht übel. Wohlauf denn, in Gottes Namen, sie angegriffen!“

Sechzehn Jahre sind vergangen; sie sind für die wackern Brüder Heinemann dahin mit allen Sorgen, Anstrengungen, Entbehrungen und Aufopferungen. Es ist ihnen gelungen, ein ehrenvolles, wenn auch ärmliches Leben zu führen und – was ihr kindliches Herz mit Stolz und geheimer Freude erfüllte – ihre alte Mutter vollkommen in dem Wahne zu erhalten, daß sie wohlhabende Söhne habe. Wie viele Verlegenheiten freilich hatten sie zu überwinden, wie viele Nothlügen mußten sie über die widerstrebenden Lippen pressen! Erleichtert wurden diese Anstrengungen, den Schleier der Täuschung über den Zustand ihres Hauswesens zu werfen, durch den Umstand, daß die alte Frau seit jenem Schreckensabend ihren Lehnsessel nur mit dem Bette vertauschte und umgekehrt. Der Stolz der kleinen Familie war Veilchen; sie war die treue Pflegerin ihrer Großmutter und stand schon seit mehreren Jahren

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853). Leipzig: Ernst Keil, 1853, Seite 265. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1853)_265.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)