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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853)

Veilchen.

Nach dem Leben.

In einem hübschen kleinen Zimmer saß auf einem Lehnstuhle eine bejahrte Frau. Die blendendweiße Haube bedeckte ihr Haar ganz. Sie hatte die Hände in einander gefaltet; ihre Augen waren geschlossen und ihre Lippen bewegten sich in lautloser Rede. Sie schien zu fühlen, daß ein Bote des Herrn in ihrer Nähe war. Unfern von ihr stand an die Wand gelehnt ein Mann, der in trübem Sinnen den Blick zur Erde kehrte.

„Glück in’s Haus! Ich bring’ Ihnen eine Enkelin, Frau Heinemann,“ sagte eine Frau, die, einen Säugling auf dem Arme, in die Stube trat; es war die Kindfrau.

„Wo, wo ist sie?“ fragte die Alte hastig und schien aufstehen zu wollen, aber kraftlos sank sie zurück, denn sie konnte nicht ohne Beistand stehen und gehen.

Die Hebamme reichte ihr das Kind, welches Frau Heinemann zärtlich küßte und an ihre Brust drückte. – „Ich danke Dir, Herr, für diese Freude in meinem Trübsal. Doch meine Augen sind trübe, sagt, was hat meine Enkelin für Augen?“

„Blau wie die Veilchen,“ erwiderte die Kindfrau.

„Veilchen! Ich hatte eine liebe Jugendfreundin dieses Namens; ihr zu Ehren soll meine Enkelin auch so heißen. Doch wo ist mein Sohn Ruben, daß er seine Tochter segne und sein Weib in ihrer schweren Stunde tröste, Moses?“

„Ich kann nicht begreifen, wo er bleibt,“ erwiederte dieser und schaute sorgenvoll zum Fenster hinaus. – „Widerwärtiger Handel!“

„Was für ein Handel?“ fragte seine Mutter.

„Leidige Geldsachen, wie sie alle Tage vorkommen.“ erwiederte der Sohn in einem gezwungen gleichgültigen Tone. – „Jetzt kömmt er wohl, ich höre Schritte auf der Treppe.“

Er trat in das größere Nebenzimmer, dessen Ausgang zum Vorsaale führte. Aber nicht Ruben erschien, sondern Levi, der jüngste der drei Brüder.

„Ist er noch nicht hier?“ fragte der Eintretende.

„Nein, und auch Du hast ihn nicht gefunden? Es wird mir wirklich bange,“ sagte Moses leise, nachdem er seinen Bruder gebeten, dasselbe zu thun.

„Er ist um zwei Uhr bei Reichardt’s gewesen und hat, wie ich vom Ladendiener gehört habe, mit seinem Herrn in dessen Stube gesprochen; dann ist er hastig fortgestürzt und niemand will ihn weiter gesehen haben.“

„Ich kann mich eines bänglichen Gefühls nicht erwehren. Es ist eine eigne Sache mit den Empfangscheinen. Ich traue Reichardt nicht. Gott vergebe mir, wenn ich ihm Unrecht thue.“

„Es läßt sich nichts sagen. Du weißt, wie Ruben ist. Er hat einen verschlossenen Charakter. Wollte man ihn fragen, würde er sich sehr gekränkt fühlen, weil er meint, wir mißtrauen seiner Cassenführung.“

Moses rieb sich in großer Aufregung die Hände und sagte: „Ich gäbe was andres um die Papiere! Es ist mir noch wie heute, daß Ruben damals hereinkam, froh, daß wir die paar tausend pünktlich gezahlt hatten. Er legte die Scheine auf den Tisch, um den Rock auszuziehen. Dann ging er hinein zur Mutter und ich verließ die Stube. Mehrere Wochen darauf sagt er mir erst, er könne die Papiere nicht finden und wolle sich von Reichardt noch einmal quittiren lassen. Ich wüßte kein Stück im Hause, das wir nicht durchsucht hätten. Und doch habe ich es erst heute Morgen bei etwas gethan, das unserer Forschung entgangen war, in unserer Mutter Amsterdamer Bibel. Mir träumte vorige Nacht, eine Lichtgestalt trete an mein Bett und sage: Erhebe dich, Levi, und schlage das Buch der Bücher nach, du wirst finden, was du suchst! Ich wachte auf und wollte der Weisung des Traumes folgen, aber ich bedachte, daß die Mutter beunruhigt würde und verschob es bis zum Morgen, wo ich denn nichts fand.“

„Wenn es bei Reichardt brennte oder er stürbe und seine Bücher wären nicht in Ordnung oder – er wäre ein Schurke, wir wären verloren,“ sagte Moses bebend.

Die Thüre des Nebenzimmers öffnete sich und die Amme mit dem Kinde trat heraus. Der jüngere Bruder begrüßte den Ankömmling ebenfalls zärtlich.

„Lassen wir die finstern Gedanken,“ sagte Moses, allein mit seinem Bruder. „Ruben hat einen Geschäftsfreund getroffen, ist mit ihm in’s Gespräch gekommen und hat Zeit und Ort vergessen. Doch jetzt vor allem Licht, es ist ja fast Nacht geworden.“

Als er die Thür öffnen wollte, geschah dies von außen. Die Magd mit einer Küchenlampe in der Hand zeigte sich. Mit einem lauten Schrei fuhr sie zurück und schlug die Thüre wieder zu.

„Was fällt Ihr denn ein, Hanne?“ fragte Moses unwillig, nachdem er die Magd hereingelassen hatte.

„Ach, nehmen Sie’s nicht übel, Herr Heinemann,“ sagte sie leise und sah sich mit einem verstörten Blicke halb um, – aber ich war selbst sehr erschrocken. Schon den ganzen Nachmittag ist’s immer gewesen, als sei jemand um mich herum.“

„Was macht meine Schwägerin?“ fragte Levi.

„Vorhin fragte sie alle Augenblicke nach dem Herrn, aber seit einer Viertelstunde ist sie ganz ruhig. Sie murmelt einmal vor sich hin, dann schweigt sie wieder, als spräche sie mit jemandem. Mir grauete, ich mußte heraus.“

Die Hausthüre unten öffnete sich, Stimmen und Tritte erschallten, man kam mit schweren langsamen Schritten die Treppe herauf, als trage man eine Last. Moses öffnete die Thüre, um Ruhe zu gebieten. Hinter ihm schaute Levi hervor. Aber beide erstarrten vor Entsetzen bei dem Anblicke, der sich ihnen darbot.

Auf dem Vorsaale dicht an den Stiegen hatten zwei Männer eine Tragbahre hingestellt. Auf derselben lag, von einem groben Linnentuch bedeckt, ein Leichnam. Die Decke hatte sich etwas verschoben und zeigte das bleiche aufgedunsene Gesicht Ruben Heinemann’s. Kleine Wasserströme, die von der Bahre ausliefen, zeigten, wie der Unglückliche geendigt hatte. Tiefes Schweigen herrschte. Plötzlich erschallte ein Schrei in der großen Stube. Gedankenlos wandte sich Levi und sah, wie seine Mutter in

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853). Leipzig: Ernst Keil, 1853, Seite 264. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1853)_264.jpg&oldid=- (Version vom 12.4.2020)