Seite:Die Gartenlaube (1853) 256.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1853)

zufügte, und doppelt gefährlich war, weil in der europäischen Türkei, als fast rechtlose Unterthanen der Sultane, 11 Millionen griechische Christen leben, die Alles von Rußland hoffen und zu dessen geheimen Verbündeten gezählt werden können. Während der ersten Hälfte des gegenwärtigen Jahrhunderts geht der Verfall der türkischen Macht immer rascher vor sich. In den Provinzen erschüttern rebellische Paschas unausgesetzt das Ansehen der Sultane; der energische und glückliche Mehemed Ali, von seinem Sohne Ibrahim Pascha unterstützt, erhebt sich zum fast unabhängigen Herrn von Aegypten; der Aufstand der Griechen im Jahre 1821, obwohl er eine blutige Christenverfolgung hervorruft (in Konstantinopel allein wurden 30,000 Christen hingeschlachtet), führt zur Unabhängigkeit des alten Hellas; der sich hieran knüpfende Krieg mit Rußland (1828) reißt die Donaufürstenthümer aus ihrem bisherigen Unterthanenverband und macht sie der Pforte gegenüber ebenfalls fast unabhängig; und noch später scheinen neue Verwickelungen mit dem ägyptischen Vicekönig den Untergang des Reichs zu beschleunigen, dessen Zügel, mit dem 1839 erfolgenden Tode Mahmud’s, in die Hände eines Kindes, des jetzigen Sultans Abdul Medschid fallen.

Während die Pforte in solche rath- und hülflose Zustände gerieth, war ihr endliches Schicksal schon längst ein Gegenstand hoher Fürsorge für die europäische Diplomatie geworden, und bald mehr, bald weniger drohend für die Ruhe Europas, tauchte von Zeit zu Zeit immer wieder die türkische Frage auf. Die dabei in ihrem Einfluß auf den türkischen Ministerrath, den Divan, in Konstantinopel sich am meisten überwachenden Mächte, waren Rußland und England, welch letzterem sich zumeist auch Frankreich anschloß, und so entstanden, neben den Alt-Türken, Parteien, von denen die eine im Anlehnen an Rußland, die andere im Bunde mit England oder Frankreich oder mit beiden zusammen, den morschen Staat zu stützen hoffte. Es würde uns hier viel zu weit führen, dem an dieses Verhältniß sich knüpfenden diplomatischen Schachspiel in allen seinen Zügen zu folgen, und wir müssen uns mit der allgemeinen Andeutung begnügen, daß die russische Politik im Wesentlichen auf den frühern oder spätern gänzlichen Erwerb der türkischen Besitzungen in Europa hinauslief, während England und Frankreich die Unabhängigkeit der Pforte aufrecht zu erhalten strebten. Daß die Politik der letztern hierbei weniger von Uneigennützigkeit als von Eifersucht gegen Rußland diktirt wird, ist klar, denn für sie handelt es sich vor Allem darum, daß Rußland, neben einem mächtigen Zuwachs an Land und Volk, nicht zugleich mit seinen Flotten das offene Meer erreicht, was bei der Besitznahme der europäischen Türkei die Folge sein würde. Ohne diese sich widerstreitenden Interessen der Großmächte, würde die türkische Macht zur Stunde bereits in Europa vernichtet sein, so aber verzögert sich ihr Fall, freilich wohl nur um eine kurze Spanne Zeit, da es ihr einmal an aller inneren Lebensfähigkeit fehlt, und Frankreich und England, selbst um den Preis eines Krieges, den Russen schwerlich die schon halb verschlungene Beute vorenthalten dürften.

Ein ernstliches Zerwürfniß zwischen der Pforte und Oesterreich und Rußland drohte im Jahre 1849, als die Trümmer der ungarischen Revolutionsarmee sich auf türkisches Gebiet geflüchtet hatten und deren Auslieferung verlangt wurde, auszubrechen, wurde jedoch durch theilweise Nachgiebigkeit von beiden Seiten zuletzt wieder beigelegt, ohne jedoch zwischen den drei Mächten das frühere freundliche Einvernehmen gänzlich herzustellen. Die üble Behandlung, welcher sich österreichische Unterthanen, ja selbst Agenten der Regierung, mehrfach in der Türkei ausgesetzt sahen, wozu verschiedene andere Streitpunkte kamen, veranlaßten im Anfang dieses Jahres zuerst das Erscheinen eines außerordentlichen österreichischen Gesandten in Konstantinopel. Graf Leiningen trat entschieden auf, so daß er den anfänglichen Widerstand des türkischen Ministeriums gänzlich brach und alle im Namen seiner Regierung gestellten Forderungen gewährt erhielt. Oesterreich errang damit jedenfalls einen bedeutenden diplomatischen Sieg in Konstantinopel.

Das kaum verzogene Unwetter sollte sich aber schnell wieder, und zwar drohender, über der Pforte zusammenballen. Bald nach der Abreise des Grafen Leiningen erschien nämlich in der Person des Fürsten Menzikoff ein außerordentlicher Gesandter Rußlands, der eben so sehr durch sein energisches Auftreten, als durch die von ihm überbrachten Forderungen den Stolz der Türken aufreizte und ihre Eitelkeit beleidigte. Die verhängnißvollsten dieser Forderungen bestanden in der verlangten Abtretung eines Küstenstrichs am schwarzen Meere mit dem Hafenorte Batun, um den Krieg in Tscherkessien nachdrücklicher fortsetzen zu können, und ferner in dem beanspruchten vertragsmäßigen Protektorat über die in der Türkei lebenden orthodoxen Griechen und in der Einsetzung eines lebenslänglichen Patriarchats. Die Pforte erkannte bald die hohe Gefahr, die in der Gewährung dieser Forderungen für ihre Hoheitsrechte lag, und nach mehrwöchentlichen Unterhandlungen, bei denen der Einfluß des englischen Gesandten Stratford de Redcliffe nicht zu verkennen war, stellte sie dem Ansinnen Rußlands eine bestimmte Weigerung entgegen. Das zuletzt von Menzikoff gestellte Ultimatum, dessen kriegerische Drohungen, ja selbst die russischer Seits beginnenden bedeutenden Rüstungen und Truppenausstellungen an der türkischen Grenze änderten an dem Entschlusse der Pforte nichts und Menzikoff verließ Konstantinopel unverrichteter Dinge.

Rußland hat zwar mit Krieg gedroht, allein ob es auch jetzt noch, wo allem Anschein nach England und Frankreich zur nachdrücklichen Unterstützung der Pforte entschlossen sind, zu diesem äußersten Mittel greifen wird, ist um so mehr zu bezweifeln, als trotz des schroffen Abbrechens der Unterhandlungen, die Aussicht auf deren Wiederaufnahme in einer mildern Form nicht gerade abgeschnitten sein soll. Wäre dem so, so würde die Krisis noch einmal hinausgerückt sein, ohne daß indessen ein Beweis für die fernere Lebensfähigkeit des türkischen Reiches gewonnen wurde. Nur fremde Hülfe hält den sinkenden Halbmond aufrecht, und die Ueberzeugung von dem nahen Falle Konstantinopels wurzelt selbst unter den Osmanlis so fest, daß die Strenggläubigen sich schon seit längerer Zeit nicht mehr auf der europäischen, sondern auf der asiatischen Seite begraben lassen, damit ihre Gräber nicht vielleicht eines Tages von den Füßen der Christenhunde getreten werden.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1853). Leipzig: Ernst Keil, 1853, Seite 256. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1853)_256.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)