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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853)

No. 24. 1853.
Die Gartenlaube.


Familien-Blatt. – Verantwortlicher Redakteur Ferdinand Stolle.


Wöchentlich ein ganzer Bogen mit Illustrationen.
Durch alle Buchhandlungen und Postämter für 10 Ngr. vierteljährlich zu beziehen.


Die kleinen Schuhe.

Am 6. Januar 1776, dem Feste der Erscheinung, bot das Hinterdeck des französischen Kriegsschiffes „der Reiher“ den Anblick einer kleinen Scene dar, die anziehend genug ist, um wieder erzählt zu werden.

Alle Officiere, welche der Schiffsdienst nicht anderswo fesselte, ergingen sich rauchend und plaudernd auf dem Verdecke, als plötzlich ein junger Seecadett die Treppe, welche zu der Kajüte des Capitains führte, herauf gesprungen kam und ausrief „Hut ab, meine Herren! Ihre Majestät die Königin!“

Aber Marie Antoinette hatte Versailles nicht verlassen, mit Hülfe der Königsschlange oder mit der Gabe, Doppelgänger zu schauen, wie sie die Bergschotten besitzen, würde man sie in diesem Augenblicke, aller Etikette, ihrer tödtlichsten Feindin zum Trotz, in einem abgelegenen Flügel des Schlosses auf der Familienbühne erblickt haben, mit ihrem Schwager, dem Grafen von Artois im lebhaften Dialoge begriffen, während dessen Bruder, der Graf von Provence, soufflirte. Sie gab die Hauptrolle im „Wahrsager“ und sang:

„Verloren hab’ ich meinen Retter,
Verloren hab’ ich all’ mein Glück!“

Worte, die sie später manchmal zu wiederholen Veranlassung hatte, – ohne zu singen, – diese arme Königin, die bereits der Geschichte anheim gefallen ist, und die bald dem Drama anheim fallen wird, ein ebenso poetischer und schöner, aber ein reinerer Charakter, als Maria Stuart.

Wer war die kühne Prätendentin, welche zwölf Hundert Meilen von Versailles sich das Scepter anmaßte, das die rechtmäßige Königin für einen Augenblick mit dem Schäferstabe vertauscht hatte?

Weder Betrug, noch Hochverrath war hier im Spiele. Die königliche Majestät, welcher die Schiffsmannschaft des Reihers huldigte, war keine andere, als die unschuldige und flüchtige Majestät der Bohne. Die Gunst des Schicksals hatte eine liebenswürdige kleine Creolin von der Insel Martinique, eine Verwandte des Capitains, damit bekleidet. Sie machte die Reise unter dem Schutze einer alten Tante, wie die Virginie des Bernardin de Saint-Pierre, um in der Hauptstadt entfernte Hoffnungen auf ein großes Vermögen und eine Erbschaft zu verfolgen.

Und es war in der That Schade, daß die junge Königin nur eine Bohnenkönigin war, denn sie unterzog sich ihren hohen und neuen Pflichten mit einer Würde und Anmuth, um die Catharine II. und Marie Theresie sie beneidet haben müßten.

„Knie nieder, schöner Page!“ sagte sie zu dem jungen Cadetten, der ihr Erscheinen verkündigt hatte, „siehst Du nicht, daß ich meinen Handschuh habe fallen lassen?“

„Zum Conseil, meine Herren Minister, und lachen Sie

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853). Leipzig: Ernst Keil, 1853, Seite 251. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1853)_251.jpg&oldid=- (Version vom 12.4.2020)