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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853)

daß er aus Ham entflohen sei, versicherte demselben seine friedlichen Absichten, und bat ihn, sich seiner noch in der Gefangenschaft befindlichen Freunde anzunehmen.

Sieben Jahre sind seitdem verflossen und der damals dem Kerker entronnene Prinz Ludwig Napoleon gebietet jetzt als Kaiser der Franzosen über Frankreich, Ludwig Philipp aber ist im Exil gestorben und seine Kinder und Kindes-Kinder leben in der Verbannung.




Aus der Menschenheimath.

Briefe
des Schulmeisters emer. Johannes Frisch an seinen ehemaligen Schüler.
Zehnter Brief.
Ein streitiges Gebiet.

Wenn man eine Lilie und einen Fisch vergleicht, so sollte man allerdings kaum glauben, daß es zwischen dem Thierreiche und dem Pflanzenreiche ein streitiges Gebiet, daß es Wesen gebe, über die heut zu Tage noch von den Naturforschern gestritten wird, ob sie Thiere oder Pflanzen seien.

Ich glaube nicht mich zu irren, indem ich voraussetze, daß es Dich interessiren werde, wenn ich Dich in meinem heutigen Briefe einmal auf dieses streitige Gebiet hinausführe. Obgleich es sich dabei nur um die kleinsten Wesen handelt, so werden wir doch bei einigen derselben großartige Beziehungen, sogar zu dem Interesse des menschlichen Lebens und Bedürfnisses und zu der Oberflächengestaltung der Erde finden. Daß es sich hier aber nicht um große Körper handeln könne, das versteht sich wohl ganz von selbst; denn darin liegt eben zum Theil wenigstens der Grund, daß man über ihre thierische- oder pflanzliche Natur im Unklaren ist, daß sie viel zu winzig sind, um eine nur einigermaßen zusammengesetzte innere Organisation zu haben, die es, wenn sie sie hätten, leicht machen würde, den Zweifel zu lösen.

Eigentlich steht die Angelegenheit, die uns jetzt ein Stündchen beschäftigen soll, in engster Verbindung mit der Frage: wodurch unterscheiden sich Thiere und Pflanzen von einander. Jedermann glaubt dies zu wissen und dennoch – gesteht jeder ehrliche Naturforscher ein, daß er es nicht wisse. Ja, wenn alle Pflanzen die vollendete Ausbildung der Eichen, Tulpen und dergl., und alle Thiere die der Vögel, Insekten, Fische u. s. w. hätten, so wäre die Sache leicht. Es gibt aber eine Menge niederer, d. h. sehr unvollkommen gebildeter Thiere und Pflanzen, bei denen die von den genannten und ähnlichen vollkommneren Thieren abgeleitete Erklärung der Begriffe Thier und Pflanze oft weder hinter noch vor passen will.

Es würde also keinesweges ein überflüssiges Geschäft sein, wenn ich Dir jetzt die Unterschiede zwischen Pflanzen und Thieren möglichst deutlich und ausführlich auseinandersetzen würde. Ich unterlasse es aber, weil es mich heute zu weit von meinem „streitigen Gebiete“ wegführen würde. Wünschest Du es, so ist es später einmal auch noch Zeit.

Ich führe Dich jetzt in Gedanken an einem heißen Sommertage an einen Sumpf oder Teich, oder an einen Wassergraben oder meinetwegen auch an eine kleine Lache eines verlassenen Steinbruches – mit einem Worte an ein stehendes Gewässer, welches einen feinen schlammigen Grund hat, in welchem Meerlinsen und andere Sumpf- und Wassergewächse und namentlich die bekannten, grünen, schlüpfrigen Wasserfäden, die der Botaniker Algen nennt, wachsen. So viel auch auf einer Quadratmeile Landes Insekten und Fische und Vögel und Säugethiere leben – in einer Hand voll von dem feinen Schlamme eines solchen Wassers leben doch oft hundertmal mehr kleine Wesen; so klein freilich, daß es der stärksten Vergrößerung bedarf, um sie einigermaßen deutlich zu sehen.

Niemand ahnet – wem nicht die Kenntniß der Natur offen daliegt – daß ein am Rande eines Teiches schwimmendes verfaultes Baumblatt ein kleines Weltall ist für Millionen – ich schreibe Dir diese Zahl nicht gedankenlos hin – unendlich kleiner und unendlich zierlicher Wesen, welche für die Menschen von Leeuwenhoeck[1] gewissermaßen erst geschaffen wurden, als er sie mit dem nicht lange vorher erfundenen Mikroskope 1675 entdeckte.

Bis vor nicht langer Zeit wurde diese außerordentlich artenreiche Welt winziger Geschöpfchen unter dem Namen Infusionsthierchen zusammengeworfen. Seit etwa 30 Jahren hat man aber angefangen diese schon vielen Tausende verschiedener Gattungen und Arten – von denen man eine vollständige Sammlung in einem Fingerhute unterbringen könnte – als Wesen von sehr verschiedenartiger Gattung auf der Stufenleiter des Natursystems zu erkennen.

Für heute will ich mich auf eine Gruppe dieser kleinen Feenwelt beschränken, welche man mit dem wissenschaftlichen Namen Diatomeen belegt, was auf das Vermögen, sich zu theilen, hindeutet. Früher nannte man sie meist Bacillarien oder Stabthierchen, wegen der Aehnlichkeit mancher mit einem Zollstabe. Einen allgemein angenommenen deutschen Namen gibt es noch nicht. Er wird kommen, wenn der Streit, ob Thier ob Pflanze, entgiltig entschieden sein wird.

Ich bitte Dich, ohne weiteres meine heutige Zeichnung zur Hand zu nehmen. An sie will ich das anreihen, was ich Dir von den Diatomeen erzählen will. Vergiß nicht, daß meine Figuren sehr stark vergrößert sind. Die Vergrößerung ist ungefähr eine vierhundertmalige. Die Figur 10 also z. B. ist in der Wirklichkeit blos den vierhundertsten Theil so lang als sie hier erscheint. Man braucht


  1. Sprich: Löwenhuk.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853). Leipzig: Ernst Keil, 1853, Seite 213. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1853)_213.jpg&oldid=- (Version vom 12.4.2020)