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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853)

100 Fuß hohe Thurm, dessen aus Bruchsteinen erbaute Mauern einige 30 Fuß dick sind, eingerichtet. Staatsmänner, Krieger, in Ungnade gefallene Höflinge, hochgestellte Prälaten, Schriftsteller und Künstler haben im Laufe des vorigen und des jetzigen Jahrhunderts in den Zellen dieses Thurmes für wirklich begangene oder ihnen aufgebürdete Vergehen büßen müssen; und in unseren Tagen, d. h. vor noch nicht dreizehn Jahren, wurde Ludwig Napoleon[WS 1], von der Pairskammer zu lebenslänglichem Gefängniß für sein zweites mißlungenes Attentat zu Boulogne verurtheilt, im October 1840 nach Ham abgeführt und dort so strenge bewacht, daß jeder Fluchtversuch unmöglich schien. Seitdem Ludwig Napoleon als Staatsgefangener in Ham saß, war die Aufmerksamkeit Europa’s auf das alte Schloß gerichtet; es war kein Geheimniß, daß der eingekerkerte Prinz noch zahlreiche Verehrer und Anhänger in Frankreich hatte, und man war gespannt, ob diese irgend welche Versuche zu seiner Befreiung unternehmen würden.

Die hierbei zu überwindenden Schwierigkeiten waren freilich der Art, daß auch dem Verwegensten der Muth sinken mußte. Zunächst gränzte es fast an Unmöglichkeit, die zahlreichen Wachen zu täuschen, welche Tag und Nacht sowohl die äußeren Eingangs-Thore zum Schlosse, als auch die inneren Hofräume, die zu dem Gefängnisse führende Treppe und die Gefängnißthüren selbst bewachten. Vierhundert Mann bildeten die Besatzung des Schlosses, und von diesen waren täglich sechszig Mann zum Wachtdienst kommandirt. Die unmittelbar zum Gefängniß führende Thür hüteten drei Schließer, von denen sich zwei beständig im Dienst befanden. Außer den zahlreichen Schildwachen in dem inneren Hofraume war das Hauptthor einem besondern Wächter anvertraut, der alle Aus- und Eingehenden scharf beobachtete. So oft der Prinz auf den Wällen spazieren ging, begleiteten ihn ein Polizeikommissar und drei Gefängnißwärter, die ihm so ängstlich auf Schritt und Tritt folgten, daß an ein plötzliches Entweichen gar nicht zu denken war.

Die Umgebung des Prinzen bildeten sein Arzt, Dr. Conneau und sein Sekretär und zugleich Kammerdiener, Karl Yelin, welchen beiden es erlaubt war, die Stadt Ham besuchen zu dürfen. Auf diese beiden, ihm treu ergebenen Personen war Ludwig Napoleon vorzugsweise angewiesen; sie waren seine Gesellschafter, und in der Unterhaltung mit ihnen und in der Beschäftigung mit schriftstellerischen Arbeiten brachte er seine Zeit hin, und es hieß von Zeit zu Zeit in den öffentlichen Blättern, daß er sich mit Resignation in sein Schicksal ergeben habe. Länger als fünf Jahre war der Prinz bereits in Haft, da erfuhr man, daß derselbe, obgleich er sich bis dahin stets geweigert hatte, die Gnade Ludwig Philipp’s anzusprechen, sich an den König gewendet und diesen um die Erlaubniß gebeten habe, nach Florenz gehen zu dürfen, um seinen, auf den Tod darnieder liegenden Vater, den Grafen St. Leu, ehemaligen König Ludwig von Holland, noch einmal zu sehen und zu sprechen. Dieser Brief des Prinzen, unterm 14. Januar 1846 von Ham datirt, wurde veröffentlicht, und man ersah aus demselben, daß Ludwig Napoleon bei seinem Ehrenworte angelobt hatte, sich, wenn die französische Regierung es wolle, wiederum als Gefangener zu stellen, sobald er die heiligen Pflichten eines Sohnes erfüllt. Wider Erwarten verweigerte das französische Kabinet dem Prinzen die Erfüllung seines Gesuchs, auch blieben die Bemühungen einflußreicher Männer, sowohl in Frankreich wie in England, demselben die Freiheit zu erwirken, fruchtlos. Um so überraschender war daher auch, nach Verlauf einiger Monate, die Nachricht, Ludwig Napoleon habe das fast Unmögliche durchgesetzt, alle ihn umgebenden Wachen getäuscht, sei am 25. Mai aus Ham, in der Verkleidung eines Arbeiters entflohen, und habe glücklich die englische Küste erreicht.

Wie der Prinz diese Flucht vorbereitet und ausgeführt, darüber hat er selbst in einem Briefe an den Redakteur des Journals de la Somme Mittheilungen gemacht. Diesen zufolge hat ihn nur der sehnliche Wunsch, seinen alten, am Rande des Grabes stehenden Vater noch einmal zu sehen, zu dem kühnen Unternehmen angetrieben, dessen Ausführung, wie er selbst schreibt, mehr Muth und Entschlossenheit erforderte, als die Unternehmungen von Straßburg und Boulogne. Nothwendig gewordene Reparaturen in demjenigen Theile des Thurmes, den der Prinz inne hatte, brachten ihn auf die Idee, sich als einer der hierbei beschäftigten Arbeiter, als Maurer, zu verkleiden, um unter dieser Maske aus dem Schlosse zu entkommen. Sein Kammerdiener Yelin sorgte sofort für eine Blouse und ein Paar Holzschuhe, und in diesen Kleidern trat der Prinz, nachdem er sich seinen Bart abgeschnitten und sein Haar gefärbt hatte, am Morgen des 25. Mai um die achte Morgenstunde die gefährliche Wanderung an. Er trug ein Bett auf der Schulter und hatte ganz das Ansehn eines Arbeiters; um aber keinen von diesen Leuten zu begegnen, hatte Yelin einen Theil derselben zu einem Morgentrunke eingeladen, auch einen der Schließer abgerufen, während sich Dr. Conneau mit den anderen unterhielt. Dennoch hatte der Prinz kaum seine Zelle verlassen, als ihm ein Arbeiter begegnete, der ihn jedoch für einen seiner Kameraden ansah. Unten an der Treppe stieß der Flüchtling auf einen Gefängnißwärter, aber er hielt das Bett vor sein Gesicht, und wurde weder von diesem noch von den Schildwachen und dem Officier in den inneren Hofräumen, an denen er vorüber mußte, erkannt. Die Soldaten am Wachthause schienen allerdings über sein Erscheinen einigermaßen überrascht, und namentlich sah ihn der Tambour mit so auffallender Aufmerksamkeit nach, daß der Prinz schon an dem glücklichen Gelingen seines Wagnisses zweifelte. Zufällig begegneten ihm jedoch wieder einige Arbeiter und da er sofort das Bett vor das Gesicht hielt, diese aber meinten, er wolle sich aus Scherz vor ihnen verbergen, so rief einer derselben: „Oho, das ist ja Bernard!“

Dieser Ausruf befreite den Prinzen von aller Gefahr, entdeckt zu werden; er kam glücklich aus dem Schlosse und ging dann rasch auf der Straße nach St. Quentin fort. Der treue Yelin, der bereits Tags zuvor für einen Wagen gesorgt hatte, holte ihn bald ein, und nun eilte der Prinz, nachdem er sich seiner Verkleidung entledigt hatte, durch St. Quentin, nach Valenciennes, und von hier auf der Eisenbahn nach Brüssel, wo er am Abend desselben Tages eintraf und sich am nächsten Morgen über Ostende nach England begab.

Der Arzt des Prinzen, Dr. Conneau, war im Gefängnisse zurückgeblieben, und man glaubte daher, Ludwig Napoleon sei unwohl. Derselbe meldete jedoch gleich nach seiner Ankunft in London dem französischen Gesandten,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853). Leipzig: Ernst Keil, 1853, Seite 212. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1853)_212.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)