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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853)

Manne, mit einem langen Besen in der Hand eingelassen. Es war noch sehr früh, doch meinte der alte Mann, der Herr Doctor werde bald zu sprechen sein, um seine „Armen-Praxis“ kurz abzufertigen, da er heute sehr früh zu einem Patienten müsse, der mehr Guineen als Gesundheit besitze. Sie ward in ein großes Zimmer gewiesen, das mit verschiedenen scheußlichen Bildern kranker und verunstalteter Köpfe, Körper, Arme und Beine u. s. w. geschmückt war, außerdem mit Glasschränken, in denen Knochen, Schädel und ganze Gerippe aufgeschichtet standen. Durch eine offene Thür sah sie andere große Zimmer, ganz in demselben Style ausmeublirt.

Mary saß und wartete wohl zwei Stunden, während der Diener immer schweigend hin und her fegte, wischte und abstäubte und alle Minuten von der Glocke nach der Thür gerufen ward, um alle Arten von Kranken und zerlumpten Krüppeln, besonders viel hohläugige Mütter mit bläulichen und oft skelettartigen Kindern einzulassen. So füllte sich endlich das große Zimmer. Niemand sprach; nur schrie hier und da ein jämmerliches Kind ohnmächtig auf, und alte Leute seufzten, stöhnten und husteten hier und da durch die öde, stille, elende Gesellschaft, auf welche die gebleichten Knochen aus den Glasschränken still und höhnisch herabgrinzten. Einige Gerippe schienen ganz besonders Wohlgefallen an der Gesellschaft zu finden; sie zeigten die Zähne von einem Ohre bis zum andern und lachten ohne Aufhören. Endlich kam der Doctor hastig herein, ein kleiner, trockner, faltiger, grauhaariger Mann mit kalten blauen Augen, die eben so gefühllos auf die Armen herabsahen, wie er wirklich war. Barsch und heftig gab er Einigen diese und jene Rathschläge, die er manchmal verwechselte, so daß der Blinde eine Verordnung als für ihn bestimmt nahm, welche einem Weibe für ihr lahmes Kind galt. Manche fragte und hörte er gar nicht, Andere schalt er mit einigen Kraftworten aus, und so war er in einigen Minuten mit seiner Wohlthätigkeits-Praxis – durch mehr als 50 Menschen hindurch – zu Ende. Die am Ende sitzende Hauptkranke fuhr er zuletzt an: „Und was ist hier los?“

„Ich wünsche Dudley Fletscher zu sprechen,“ war die zitternde Antwort.

Der Doctor warf einen kalten höhnischen Blick auf die Unglückliche, eilte davon, indem er heftig nach der Uhr sah, und rollte sogleich in seiner prächtigen Doctorkutsche davon.

Hinterher wankten und hinkten die Kranken, welche zu dem höhern Ruhme des berühmten Doctors so viel beitrugen. „Er ist wie unser Heiland selber,“ sagten die höhern Frommen seiner Klike, „er läßt Alle, die mühselig und beladen sind, zu sich kommen und erquickt sie“ – im besten Falle mit Medizin aus einer Apotheke, die ihm – hundert Procent von ihrem Gewinne bezahlen muß.

Marie war allein zurückgeblieben. Der Portier gab ihr endlich Auskunft. Herr Fletscher sei ein Lebemann und komme jetzt selten zum Doctor, doch könne es immer möglich sein, daß er heute grade einmal komme, um am Kohlenfeuer zu schlafen, während die Andern eifrig dem Doctor zuhörten; aber wahrscheinlich sei es nicht. Das Beste sei vielleicht, ein Billet an ihn zurückzulassen.

Mary wartete noch einige Stunden, dann schrieb sie mit zitternder Hand einige Zeilen, übergab sie dem Portier und wankte bis zum Tode betrübt in ihr Hotel zurück. –

Hier dachte sie lange darüber nach, was sie thun, was sie sagen wollte, wenn Dudley wirklich käme.

Sie kam zu keinem bestimmten Gefühle und Gedanken. Nur fieberisches, unendliches Weh durchwüthete Seele und Leib, und wenn sie ihn nur noch einmal sehen, nur noch einmal seine Stimme hören, nur noch einmal seinen Arm um ihre Gestalt geschlungen fühlen könnte, müßte Alles wieder gut sein, dachte sie, weiter nichts. Aber die Zeit schlich langsam dahin und kein Dudley kam. Bei jedem Geräusch von Schritten zitterte sie auch und meinte, nun müsse er es sein. Doch wieder und immer wieder getäuscht und durch impertinentes Ansehen von Kellnern und Fremden in Verlegenheit gesetzt, stellte sie sich wieder an’s Fenster, und, hinstarrend auf das ewige Gedränge in der Straße, merkte sie endlich plötzlich, daß ihre Augen von den fließenden Thränen ganz matt geworden. Das unaufhörliche Toben und Wühlen auf der Straße ging an ihr vorüber wie einförmiges Wasserrauschen. Der Abend kam und sie stand immer noch am Fenster.

Die Laternen wurden angezündet, das Toben und Tosen auf der Straße wurde stiller und stiller, schon sah man die Leute einzeln gehen und immer einzelner, und immer war noch kein Dudley gekommen; Kellner kamen öfter und fragten immer zudringlicher, was sie eigentlich wolle, so daß sie sich zuletzt genöthigt sah, zu gehen. Wohin? Hinaus in die düstern, kalten Straßen Londons mit seinen ewigen Reihen dichtverschlossener und burgartig vergitteter Häuser. Wohin? Nicht von dem Hotel weg: er kann ja immer noch kommen. So ging sie vor dem Hotel und gegenüber auf und ab, jede Gestalt die sich näherte, mit den Augen durchdringend, ob er nun endlich einmal zu entdecken wäre. Aber auch hier wurde sie bald belästigt, von Vorübergehenden frech angesehen oder wohl gar mit verächtlicher Zutraulichkeit angeredet, so daß sie beschloß, seine Wohnung, das Haus der berühmten Mrs. Hays, zu erfragen. Manch kundiger, freundlicher Policemann wurde vergebens gefragt, Mancher der weniger wußte, als nichts, gab ihr Straßen und Richtungen an, die vom Ziele abführten, so daß es Mitternacht wurde, ehe sie sich zurecht gefragt hatte und sicher war, den richtigen Weg zu gehen.

Endlich stand sie vor einem strahlenden Palaste, aus welchem rauschende Musik erscholl. Hier wohnte Mrs. Hays, das war keine Frage mehr. Jedes Kind wußte es in der Nachbarschaft. Sie schlich sich an die prächtige große Thür und sah auch den silbernen Knopf, welcher in einer Umschrift verkündigte, daß er nur von „Gästen“ gezogen werden könne, während auf der andern Seite ein blos „messingner“ Knopf die Umschrift „servants“ (Dienstleuten) trug. Sie zog an einem. An beiden Seiten der Thür liefen Säulenhallen hin mit prächtigem Marmor und Gußeisenwerk. Innerhalb derselben wagte sie sich bis an ein Fenster. Im ersten Augenblicke stand sie ganz geblendet. Die prächtigsten Säle hinter riesigen Spiegelscheiben, wohl absichtlich gar nicht verhüllt, schwammen im üppigsten Lichte goldener und krystallener Kronenleuchter. Purpurne und goldene Tapeten, kostbare Meubles mit Sammet und dem künstlichsten Schnitzwerk, ungeheuere Oelgemälde, schwellende Teppiche mit herrlicher Stickerei und auf diesen ein Gewoge der glänzendsten Gesellschaft,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853). Leipzig: Ernst Keil, 1853, Seite 202. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1853)_202.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)