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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853)

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Aufrufe zur Mildthätigkeit werden nicht selten in Briefen à 1 Penny mit Anweisungen auf die Post in wenig Stunden reichlich befriedigt. Höker, Kleinhändler, Matrosen und dergleichen kleine unstäte Leute zahlen ihr Geld der Sicherheit wegen an einem Orte ein, um es sich an einem andern wiederzuholen: eine ganz praktische Sicherstellung gegen eigene Versuchungen und die langen Finger Anderer. Kleine Schulden und Forderungen lassen sich auf diese Weise stets schnell und sicher erledigen. Der Segen für das Publikum geht materiell und moralisch in’s Unendliche, zumal wenn man sich dabei erinnert, daß durch ganz England (am Ausgebildetsten in Schottland) durch das vollkommenste Banksystem jede Summe von 5 Pfund an zu jeder Zeit und auf jede beliebige Zeit zinsbar angelegt werden kann und jeder gemeine Bauer, Matrose u. s. w., der sich in dieser Beziehung einer Bank zu empfehlen wußte, Credit auf ziemlich hohe Beträge bekömmt, wenn er sich verbessern, etabliren oder sonst durch einen momentanen Geldaufwand in Production und Achtung höher stellen will.

Ein Brief mit 5 Siegeln würde in England, insofern er einen Geldbrief bedeutete, als das Zeichen eines längst untergegangenen barbarischen Zeitalters so merkwürdig sein, daß man ihn für Geld sehen lassen könnte. Geld unterwegs ist so lange todt, als es reis’t. Wozu diese commercielle Barbarei! Geld, das nicht reis’t und hier bezahlt auch zugleich dort bezahlt ist, hat eine doppelt lebendige Existenz, als körperliche Masse und als geistiges, als Creditwesen.

Die „Central-Money-Order-Office“, dicht neben dem Hauptpostamte Londons und der Welt, in Aldersgate-Street, das Herz der übrigen 1099 Anstalten, verdient noch einen kleinen Besuch. Ein riesiges Gebäude mit ungeheuern Gewölben, die sich in unermeßliche Wälder und Berge von Anweisungen und Quittungen – alle auf das Sorgfältigste und Methodischste geordnet – verlieren. Das Bureau, worin die Orders ausgegeben und bezahlt werden, hat einen unendlich langen Zahltisch, an welchem die Commis hinter Eisengittern mit ihren hölzernen Zahlbrettern und kleinen, niedlichen Goldwagen in unabsehbaren Massen unaufhörlich zahlen und zahlen lassen, schreiben und schreiben lassen. Hier sieht man alle Tage von 10 bis 4 Uhr alle Sorten von Menschen in Massen kommen und gehen, so daß die Schwung-Thüren (die sich, ohne Klinken, durch bloßes Andrängen nach Innen und Außen öffnen) nie eine Minute Ruhe haben: schmierige Fleischer mit Fettklümpchen im Haar vom Newgate-Markt, ihre heißen Stirnen an den Eisengittern kühlend und reibend und gierig durchblickend, wie Bären im guten Humor, straffe, kleine Commis, noch nicht lange aus der Schule gelaufen, ältere Commis in Jagd-Fracks, Matronen, die keine Macht der Erde oder des Himmels bewegen kann, in kurzen, klaren Worten zu sagen, weshalb sie eigentlich gekommen sind, Leute mit kleinen Kindern, die in ganz entlegenen Ecken untergebracht werden und aussehen, als sollten sie da, aufgegeben, ewig hocken bleiben, Arbeiter, Kaufleute, Beamte mit halben Gehältern, zurückgezogene alte Herren aus schönen Gartenhäusern am New-River, ungeheuer kaltblütig gegen Stöße und Tritte und ungeheuer ausdauernd, ihre Anweisungen mit Stöcken und Regenschirm-Stielen hinein zu schüren u. s. w.

Die Art, wie die Leute Geld zahlen und empfangen, ist eine unerschöpfliche Quelle von Charakter-, Standes- und Vermögens-Enthüllungen. Damen z. B., die beim Einzahlen zögern, den letzten Schilling hinzulegen und sich allemal einbilden, diese Kleinigkeit werde in der Eile und Unendlichkeit des Geschäfts nicht bemerkt werden, sind allemal Hausfrauen.

Hin- und herschwebend hinter diesen Massen beobachtet ein langer Constabler kaltblütig deren Thun und Treiben, ein stattlicher Anblick für Matronen und Wittwen und unaufhörlich in Anspruch genommen vom weiblichen Geschlecht, das sich nicht in die ungalante Ordnung des Geschäfts finden und fügen will. Wer falsches Geld hat, hüte sich, es hierher zu bringen. Der stattliche Constable winkt euch in ein Nebenzimmer, schneidet euch eure Krone entzwei und wickelt die Stücke im besten Falle nach einer scharfen Untersuchung in einen mit eurem Namen beschriebenen Zettel, in welchem sie einem großen Vorrathe anderer unedeln Münzen einverleibt werden. Daß eine Menge Schwindler, Pillendreher, Haarwuchsmacher u. s. w. durch die Money-Order-Office und die Leichtgläubigkeit des Publikums reich werden, ist bekannt. „Wer fünf Schilling schickt, sichert sich dadurch ein jährliches Einkommen von 75 bis 300 Pfund, so lange er lebt.“ – Der Fall ist bereits durch die Zeitungen bekannt geworden. Die „Money-Order-Office“ hat dem Autor dieser Anzeige viele Tausende von Pfunden auszahlen müssen, allerdings ein befremdendes Zeichen von arithmetischer Bildung unter dem großen Haufen in England. „Leichtgläubigkeit und Geldgier haben keine Grenzen.“

Hinter den Commis läuft eine Reihe von 1100 „Taubenlöchern“, wie der Kunstausdruck heißt, hin, entsprechend den 1100 Bureaux in England (mit Irland und Schottland, die eigene Bureaux haben, 1700). Wenn man eine Geldanweisung präsentirt, geht der Commis direct damit in die Höhle hinein, die den Namen des Ortes trägt, wo sie ausgegeben und bezahlt ward. Stimmt es, so erfolgt sofort die Auszahlung. Das Centrum aller 1100 (und resp. 1700) Bureaux in Aldersgate-Street beschäftigt 178 Commis ohne die obern Beamten. Ordnung und Zusammenhang sind hier so schnell und genau, daß jeden Tag um 2 Uhr die Bilanz jedes der 1700 Bureaux bis auf Heller und Pfennig gezogen werden kann. –

Um eine Ahnung von den riesigen Operationen des ganzen Systems zu geben, theilen wir die Uebersicht des letzten Jahres mit. Es wurden 4,700,000 Orders auf 63,000,000 Thaler gegeben und überhaupt 119,000,000 Thaler durch die Money-Order-Offices in Empfang genommen und gezahlt, mehr als ein volles Drittel der ganzen Staatsausgaben dieses officiell ziemlich theuern Landes. Jeden Tag ein Umsatz von kleinen, nicht bankfähigen Beträgen – von 350,000 Thaler. Der Reingewinn betrug 1851 ziemlich 50,000 Thaler. Ohne Penny-Porto und mit dem Monopol setzte die Regierung dabei jährlich über 74,000 Thaler zu. – Trotz der ungeheuern Zunahme dieses Geschäfts und der Verdoppelung seiner Arbeiten – sind die Kosten desselben auf die Hälfte gesunken, ein Beweis, was praktische Einrichtung und Einfachheit vermag.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853). Leipzig: Ernst Keil, 1853, Seite 196. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1853)_196.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)