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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853)

„Stepney“ ist ein Name, mit welchem man alle die großen Proletarierstädte im Osten der City: Whitstapel, Spitalfields, Bethnolgreen, Poplar-Linehouse, Schadwell u. s. w. in einem Worte bezeichnet. Der Mittelpunkt der Stepney-Volksbelustigungen ist denn auch ungefähr in der Mitte dieser großen Haufen Unglück in den bezeichneten Stadttheilen – zwischen drei Eisenbahnhöfen und einer Menge Kanälen, die in die neun meilenweiten Docks und von da in die ewig belebte Themse führen. An jedem Eisenbahnhofe lungern stets Hunderte von Boten und Trägern, in jedem Dock finden jeden Morgen 600 bis 1000 Menschen als Löscher und Lader Beschäftigung, ohne die Hunderte und Tausende, denen die Thore vor der Nase zugeschlagen werden und die sonach mindestens 24 Stunden hungern oder betteln, wenn sie nicht anderweitig in der ewigen Lotterie von Angebot und Nachfrage einen Gewinn ziehen. In jedem Kanal ziehen, laden und löschen täglich Hunderte von Kohlenmännern und Frachtkahnschiffern. Ringsum liegen außerdem unendliche Massen von Fabriken und Manufacturen und Werkstätten, die für große Lieferanten arbeiten, auch „Klein-Deutschland“ in Whitstapel mit seinen Zuckersiedern, Straßenmusikanten, Besen- und Blumenmädchen aus allen Theilen Groß-Deutschlands. – Alles dies ist nun heute so hübsch beisammen in Stepney. Zunächst kann man gar nichts unterscheiden. Es ist wie ein Wasserfall, der statt aus Tropfen, aus Menschen, Buden, Apfelsinen und Zündschwamm besteht. Lernt man dann etwas unterscheiden, fällt uns gewiß zunächst eine ungeheure Masse schmutziger Jungen und Mädchen auf, die alle etwas für 1 Penny oder 1/2 Penny zu verkaufen haben, besonders Apfelsinen, Zündschwamm und Zuckerwerk. Jedes Mädchen hat einen Hut auf, geht aber jedenfalls barfuß. Der Hut ist das Letzte, was ein weibliches Wesen in London verliert. Nichts sieht komischer aus, als wenn so ein irisches Apfelsinenmädchen mit zottigem Haar so ein recht nettes, vornehmes, seidenes Mäntelchen, das sie geschenkt bekam, auf den Lumpen trägt, die ihr in schauerlicher Vielseitigkeit um die nackten Beine fliegen. Und die Erwachsenen? Ja hier sieht man Vollblut-Angelsachsen. Was für stoute, doppelstoute, vierschrötige, gutmüthige Kraftmenschen! Das ist Proletariat mit Guineen in der Tasche und Fleisch und Porter im Magen. Sie stillen nicht ihren Hunger, sondern befriedigen täglich den gesegnetsten Appetit mit Fleischkeulen, die sie noch eben so zubereiten, wie die alten griechischen Helden im Homer, und mit Porter und Ale, gegen dessen Stärke sich die deutschen „Kümmel“ im Gefühl ihrer Schwäche hinter das blanke Wasser verkriegen würden.

Die Masse blauer Jacken mit blanken Knöpfen, flatternden Halstüchern und breitkrämpigen Strohhüten zeigen, daß Seewasser in der Nähe ist. Was für seltsame Gestalten! Und was für eine Menge unmögliche Sprachen sie mit einander reden. Lange, hagere, breite, dicke, gelbe, braune, rothe, schwarze Matrosen – alle Völker und Racen waten da schwerfällig umher und zum Theil Arm in Arm, verbrüdert durch das kosmopolitische Meer und in den Tanzkneipen Hamburgs, Londons, New-Yorks, Valparaisos, Capstadts, Cantons, Schanghais, Adelaides, Melbournes, Sydneys u. s. w.

Um auch einen Blick auf das weibliche Geschlecht zu werfen, so bemerken wir, daß es hier am Schlechtesten her- und wegkommt. Zwar sieht man manche anständige, schöne, arme Gestalt; aber die Meisten lachen dir gerade in’s Gesicht und nicht selten wirst du in ihrer Nähe einen unerträglichen Gin-Geruch merken. Gin, der ekelhafteste, giftigste Branntwein, ist der tägliche Trost der Verworfenen, Armen und Hungrigen, besonders der hier überaus stark vertretenen Irländerinnen, kenntlich an ihren breiten, stumpfen, schmutzigen Gesichtern.

Was thun denn nun aber die etwa 500,000 Menschen hier? Sie genießen Staub, Gin, Bier, Austern, sehen und lassen sich sehen, drängen und lassen sich drängen – das ist Alles. Doch nein, für den Gehörsinn ist doch am Besten gesorgt. Man denke nicht, daß die Leute eben hier in Buden hineingucken und sich etwas aussuchen oder auch nicht, und dann bieten und handeln oder auch leer wieder weggehen. So bequem haben’s die Handelsleute hier nicht. Alle Bildung und Weisheit aller Zeiten und Nationen muß hier in den Buden und an den Ständen mitarbeiten, um den Leuten ihr Kupfer und Silber abzujagen. Dort blinkt eine „silberne“ Zuckerzange in der Luft. Der Mann, der sie emporhält, erzählt in der anmuthigsten Weise deren ganze Geschichte und Werth, wie das Erz aus der Erde kam, geschmolzen, gereinigt, verarbeitet ward, die lange Mord- oder Bibelgeschichte, die in Relieffiguren auf sie gedruckt ward. – Nachdem das Alles im lebendigsten Flusse und Feuer öffentlicher Beredtsamkeit bekannt geworden, faßt er Alles zusammen und wie eine Bombe donnert dann der Schluß in die staunende Menge: Gentlemen und Ladies, das Alles bekommen Sie für 1 Schilling. Aber keine Hand regt sich, kein Schilling zeigt sich gerührt. Nun „man wird ihn hören, stärker beschwören“. Zu der Zuckerzange gesellt sich ein Rasirmesser. Dessen Geschichte und Tugenden werden jetzt mit denen der Zuckerzange verflochten. Bombe: Alles für 1 Schilling. Es kommt noch Keiner. So nimmt er zu der Zuckerzange und dem Rasirmesser, Löffel, Messer und Gabel. Die Rede beginnt von vorn und verwebt die Tugenden und Biographien aller fünf Gegenstände zu einem einzigen Haupteffect. Alles, Alles das zusammen für einen einzigen Schilling. Zuletzt strotzt die Hand wie eine große Sonne von Zuckerzange, Rasirmesser, Löffel, Messer, Gabel, Scheere, Federmesser, Theelöffeln, Nadelbüchsen, Zahnbürste, Badeschwamm, Geldbörse u. s. w. – Mit so erhobener Hand führt der Mann die verwickeltste Fuge von Biographien und Attesten mit Anspielungen auf Minister, mit Citaten von Sokrates, Cicero u. s. w. durch, und auch jetzt kostet Alles zusammen nur noch einen Schilling. Ein Glück, wenn das englische Achtgroschenstück sich nun ergiebt. Ergiebt’s sich nicht, so wirft der Mann Alles zusammen nieder und versucht’s mit Schnittwaaren, Bildern u. s. w. nach demselben Systeme. Welch eine Anstrengung, welch ein Witz, welch eine Gelehrsamkeit, um eines Schillings willen. Aber das ist noch Aristokratie.

An tausenderlei Orten siehst du dasselbe Schauspiel um bloßer kupferner Pence willen. Da steht z. B. ein Mann mit einem Haufen gewöhnlicher Calmuswurzel. Der Mann sagt, man habe dem Sokrates, nachdem er das Gift getrunken, gerathen, von dieser Wurzel zu nehmen, er habe es aber abgelehnt, und das sei der einzige Grund, weshalb er gestorben, sonst würde er heute noch leben. Was man Christus am Kreuze gereicht, sei nicht Essig in einem Schwamm, sondern

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853). Leipzig: Ernst Keil, 1853, Seite 174. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1853)_174.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)