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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853)

mich eine sehr in’s Rothe spielende Blondine von sechszehn Jahren, aber mit zehnjähriger Kindlichkeit bat, ihren Tauben den Vorzug zu geben. Welche Heiterkeit und Lebensfülle, welche sprudelnde Naivetät in diesen blühenden Jugendgestalten! Da steht die Turnanstalt, weiter hin blinkt ein großer See mit Kähnen und Gondeln, wo sie sich alle Tage baden und um die Wette rudern. Und dort die Kühe und jungen Ochsen, wie rund und rein und klug. Jeder hört auf seinen Namen und kommt weit her, blos um sich ein Bischen streicheln zu lassen. Die Hühner und Hähne, darunter stolze, riesige Asiaten aus Calcutta, welche Eier legen sie zum Frühstück! Immer Bewegung, Leben, Kraftübung, herrlichste Natur, kräftigstes Rumsteak, derbes Bier, feurigen Wein, Eier, Speck, Schinken, Haschen und Hänseln, Wetten und Wagen – o welche Lust, dort Schulmeister zu sein!

Nach zwei Stunden aber hatte das Alles seinen Reiz verloren. Ich war der Dame des Hauses vorgestellt worden, und fortan beschäftigte mich ihr edles Gesicht, ihr ruhiges, trauriges Auge so ausschließlich, daß ich Alles um mich her vergaß. Was ist der Zauber in diesem klassischen, blassen Antlitz? Sie ist eine hohe Vierzigerin, und Alles, was man mit Liebe zu einem weiblichen Wesen in Verbindung bringen könnte, war von meinem mir selbst unerklärlichen Interesse für diese Augen ausgeschlossen. Gäste kamen und gingen, und sie war eine Wirthin und Herrin in ihrer prächtigen Behausung, wie ich nie etwas Aehnliches gesehen: sie machte die Honneurs mit einer Würde und Grazie, mit einer Milde, Herzlichkeit und Vornehmheit zugleich und immer mit so geheimnißvoll traurigen und treuen Augen, daß durch ihr Lächeln mit den Fröhlichen, ihr Lachen mit übermüthigen Kindern, ihr Scherzen mit den Gästen stets ein innerer, tiefer Schmerz hindurch zu tönen schien. Sie war gesund, schön, reich, gebildet, glücklich als Mutter und Gattin und in letzterer Beziehung in einem beneidenswerthen Grade. Ihr Gatte behandelte sie stets noch wie der glücklichste, jugendliche Anbeter in den ersten Flitterwochen, und etwas Fröhlicheres, Gesunderes, Witzigeres, als ihre Kinder, konnte man kaum sehen. Ich konnte keine andere Erklärung für diesen melancholischen Reiz ihrer Augen finden, als eine alte, tiefe Herzenswunde, welche die gütige Hand der Zeit gründlich zu heilen nicht im Stande gewesen war. Ein tragischer Zufall ließ mich bald tiefer in dieses edle, leidende Herz blicken.

Ich war schon beinahe vierzehn Tage Gast des Hauses gewesen und fühlte mich so glücklich, wie in einer neu gewonnenen Heimath. Der Schulmeister gab den wilden Jungen eines Abends den üblichen Unterricht, und ich ließ mich während der Zeit nachlässig auf dem See herumtreiben, wobei mir Niemand zusah, als ein Paar riesige Schwäne, die manchmal mit ihren langen Hälsen ganz tief in den Kahn hineinblickten, ob nicht einige Brocken von dem Weißbrode, das ich ihnen gereicht, übrig geblieben seien. Sonst Alles still und einsam um mich herum. Der feurige Westen blickte glühend durch große, fette Bäume und spiegelte sich in unzähligen Farbenlinien im See, dazwischen auch meine Vergangenheit in unzähligen, schmerzlichen Bildern, denn auch die heitern und glücklichen blickten traurig aus der Tiefe des Wassers zu mir herauf: sie waren ja begraben ohne Hoffnung einer Auferstehung.

Der Kahn rauschte im Schilfe und schob sich von selbst am Ufer fest. In demselben Augenblicke, als mich diese unwillkürliche Landung aus meinen Träumen erweckte, bekam der Kahn einen plötzlichen Stoß und eine weiße Gestalt mit langen, braunen Locken stürzte sich in meine Arme. „O, wie lange hast Du mich warten lassen!“ rief sie schmerzlich. „Sieh, es ist Alles bereit. Die Gäste warten schon so lange, lange, und ich noch viel länger. Und o, mein Gott, wie bist Du alt geworden seit gestern! Komm, laß uns eilen; o die Zeit ist grausam und hält nie Ruhe. Komm, Mary soll mir Deine Perlen anlegen und den Schleier und dann treten wir gleich vor den Altar. Und dann?“ Sie umklammerte mich wieder, legte ihren Kopf an meine Brust und lachte und weinte krampfhaft. Die dünnen, geisterhaften Arme, der beinahe durchsichtige Hals und Nacken, die wirren Locken, Reden und Blicke ließen mir keinen Zweifel, daß ich ein unglückliches, wahnsinniges Wesen in meinen Armen hielt. Meine Verlegenheit wurde mit jedem Augenblicke peinlicher. Ich hatte sogleich beschlossen, ihren wirren Vorstellungen und Fragen zunächst meine Vernunft nicht entgegen zu setzen und auf ihren Wahnsinn einzugehen; aber ich konnte nicht immer zu ihrer Befriedigung antworten, so daß ich durch Ausweichungen und Vertröstungen auf eine andere Zeit davon zu kommen suchte. „Nein jetzt, jetzt oder nie!“ rief sie plötzlich und sah mich scharf und durchdringend an. „Liebst Du wirklich die Mary mehr wie mich? Es ist noch Zeit, ich liebe Dich und Mary mehr wie mich; also erlöse mich von diesen Banden, erlöse mich!“ – In meiner Voreiligkeit und wähnend, eine bejahende Antwort werde sie trösten, erlösen, gab ich eine bejahende Antwort. Ein gellender Schrei und die Unglückliche sprang von der Spitze des Kahns weit hin in’s Wasser. Bald hatte ich ihr Kleid gefaßt, doch vergebens strengte ich mich an, sie wieder in den Kahn zu bringen. Sie kämpfte mit Riesenkraft dagegen und tauchte sich absichtlich unter. Endlich rief die Herrin des Hauses durchdringend vom Ufer: „Lusy! Lusy! Lusy, komm zu mir!“ Kaum hörte sie diese Stimme, so wurde sie sanft, klammerte sich an den Kahn, lachte und bat um Entschuldigung, daß sie sich einen Scherz gemacht habe. Sie ließ sich geduldig aus dem Wasser ziehen und in’s Haus tragen. Die Herrin des Hauses führte mich und sie einige Treppen hinauf in ein ringsum gepolstertes Zimmer mit Eisenstäben am Fenster, legte die Unglückliche auf ein Sopha,