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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853)

„Ich hatte ihrer acht. Sechs sind noch am Leben, Herr.“

„Da haben wir vielleicht ein paar von ihnen gesehen, drüben in der – –“

„In der Lumpenschule, ja wohl! ’S sind vier von den unsrigen drüben.“ Und dabei sieht uns das arme Weib stolz an, mit einem entschiedenen Mutterstolze; des Namens der Schule schämt sie sich nicht im Mindesten; sie arbeitet ja, arbeitet um’s tägliche Brot für ihre Kinder; ist keine Bettlerin; um Alles in der Welt nicht; braucht sich daher nicht zu schämen. – Jetzt läßt sie ihren Stuhl ein wenig ruhen. Der junge Arbeiter und der Hausherr thun dasselbe.

„Webers Kinder sind bei’m Webstuhl geboren, meine Herren“ – hebt der Alte aus dem Stegreif an, und aus seinem tiefliegenden Auge fliegt ein freundlicher Strahl, und über die schmale Unterlippe fliegt ein zärtliches Lächeln, als er auf die beiden Kinder blickt, die sich bis hart an seinen Stuhl herangeschleppt hatten – „so ein Webers Kind ist mit dem Klappern aufgewachsen, kennt nichts weiter auf der Welt, wird groß und stark, und wenn’s Gottes Wille ist, wird’s auch da krank und stirbt da.“ Und wie der Alte sein Sprüchlein gesagt, fängt er wieder zu weben an, und die Andern fallen im Chorus ein.

„Die Arbeit dieser Leute, Mr. Bradelle – sie können uns in dem Lärm doch nicht hören, wenn wir leise sprechen?“

„O nein.“

„Erfordert wohl nur wenig Geschicklichkeit?“

„Sehr wenig. Macht’s gerade so, wie’s sein Großvater gemacht hat. Ist auch gar nicht zu bewegen, die kleinste Aenderung - das Fliegschiffchen zum Beispiel - einzuführen, um das Zusammendrücken der Brust, worüber er so eben geklagt hat, zu vermeiden. Gegen den alten Brauch vermögen wir mit dem besten Willen nichts. Das arbeitet sein Lebelang auf der Stube, in einer eingeengten Atmosphäre statt in einem luftigen, gesunden Fabrikslocale. Man schiebt die Schuld so leicht auf uns Fabriksherren. Aber versuch’ da eine Aenderung wer kann. Ich kann’s nicht. Wenn ich – –“

Herr Bradelle schweigt. Er muß schweigen, denn plötzlich zittert das Haus vom Erdgeschoß bis zum Dach. Ein Donnerwetter fährt über unsere Köpfe hin. Ist’s ein Erdbeben, ein Gewitter? Oder hat sich ein Vulkan im Herzen Londons aufgethan? Wie das schwankt und zittert!

„’S ist blos die Eisenbahn, Sir,“ ruft uns der junge Arbeiter zu, der unsern Schreck bemerkt hat.

Knapp am Hause vorbei ist nämlich ein Bogen jener Bahn gespannt, die nach Blackwall und um den nördlichen Stadtrayon führt; über dem Dach hinweg läuft der Telegraphendraht; die Locomotiven mit ihren gewichtigen Trains laufen vor den Fenstern vorbei und erschüttern die Häuser der Armen bis in ihre Grundmauern. Halb London rauscht im Laufe des Jahres vor ihrem Elend vorbei. Die Schätze Indiens aus den Westindia-Docks fliegen vor ihren Augen vorüber in den Alles verschlingenden Abgrund, den man London nennt. Der arme Weber steht am Stuhl; hier ist er geboren, hier lebt, hier stirbt er. –

Das Sonnenlichtbild am Boden ist mittlerweile verschwunden. Die Sonne selbst ist untergegangen, es wird rasch finster, und wir verlassen die Arbeiterstube, wo Jedes jetzt sein kleines Lämpchen auf einem Drahthaken am Webstuhl aufhängt, um die nächtliche Arbeit zu beleuchten. Die Schatten der Stühle zeichnen sich scharf an den Wänden ab. Der Zeisig im Käfig ist stille geworden, steckt den Kopf zwischen seine beiden Flügel, und schickt sich zur Ruhe an. Der wasserköpfige Säugling liegt auf dem Schooße seines Bruders und dieser kauert am Kamin und glotzt gedankenlos in die ersterbende Glut. Der Kohlenbehälter ist leer. Es scheint, als ob’s mit dem Feuer heut’ zu Ende ist.

Wir stehn mit unserm Begleiter wieder auf der Straße. Die eben mitangesehene Leidensscene war wohl geeignet uns schweigsam zu machen. Mr. Bradelle ist der Erste, der das Schweigen bricht.

„Die Schwankungen im Seidengeschäft“ – bemerkt er in seiner gewohnten ruhigen Redeweise – „und im naturgerechten Zusammenhange mit denselben die Lage der Weber in Spitalfields erscheinen gar plötzlich und ohne daß man sie vorhersehen kann, denn sie hängen von einer Masse unberechenbarer Ursachen ab. Nehmen wir zum Beispiel die letzten vier, fünf Jahre – –“

„Aber gleicht sich die Sache nicht in einer Reihe von Jahren aus? Waren diese Schwankungen bedeutend?“

„Bis zum Extreme, wie Sie gleich hören sollen. Im Jahre 1846 waren die Preise der rohen Seide sehr niedrig. Die Fabrikanten kauften zusammen so viel sie konnten, und ließen aufarbeiten was sie aufgebracht hatten. Da war keine Hand unbeschäftigt, da feierte kein einziger Stuhl. Die aufgehäuften Vorräthe waren enorm; die Seide stieg. Das war im Jahr 1847, und nun trat eine Stockung ein.“

„Entschuldigen Sie, Mr. Bradelle, daß wir Sie unterbrechen. War’s nicht zu jener Zeit, als der große Nothschrei von Spitalfields sich durch’s ganze Land hörbar machte, und Meetings zur Abhilfe der Noth veranstaltet wurden?“

„Ja wohl. Durch einen Streit der großen Detailhandlungen mit den Seidenfabrikanten und en gros Verkäufern war damals die Stockung noch verlängert worden. Sie werden sich erinnern, es handelte sich um’s Ellenmaß (die short measure question, die nicht blos England, sondern das ganze südliche Europa berührte). Die Detailhändler wollten, daß unser Yard[1] sieben und dreißig Zoll halten solle, und das ganze Herbstgeschäft war durch diesen Streit verhunzt. Dem war kein Ende bis zum Ausbruch der Pariser Februar-Revolution. Jetzt rannten unsere Großhändler und Detailkaufleute aus dem Westend schaarenweise, mit ungeheuern Fonds versehen, nach Paris und Lyon hinüber. Der Schrecken war den französischen Kaufleuten in alle Glieder gefahren. Sie verkauften um jeden Preis. Es galt eben nur, ein Angebot zu machen. Dadurch öffneten sich für uns Engländer zwei verschiedene Wege. Die Groß- und Detailhändler hatten freilich eine schwere Last gearbeiteter Seidenwaaren herübergebracht, aber wir Fabrikanten waren auch nicht müßig, und kauften in Frankreich die rohe

  1. Englisches Fuß-Maß.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853). Leipzig: Ernst Keil, 1853, Seite 17. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1853)_017.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)