Seite:Die Eroberung des Brotes.pdf/89

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

II.

Wieviel Stunden täglicher Arbeit wird der Mensch leisten müssen, um seiner Familie eine reichliche Nahrung, ein komfortables Haus und die notwendige Kleidung zu schaffen? Diese Frage hat häufig die Sozialisten beschäftigt und sie nehmen im Allgemeinen an, daß vier oder fünf Stunden täglich genügen würden – wohlverstanden unter der Bedingung, daß Jeder arbeitet. Am Ende des 18. Jahrhunderts kam Benjamin Franklin zu einem Resultat von 5 Stunden; und wenn die Bedürfnisse nach Komfort sich seitdem vermehrt haben, so ist auch die Produktivkraft gewachsen und zwar in noch viel höherem Maße.

*

In einem anderen Kapitel, welches von der Landwirtschaft handelt, werden wir sehen, was die Erde wirklich dem tragen kann, der sie zweckmäßig bestellt, der nicht, wie es heute geschieht, den Samen auf gut Glück auf mangelhaft gepflügten und geeggten Boden wirft. Auf den großen Farmen des östlichen Amerikas, die viele Quadratmeilen umfassen, deren Boden indes noch viel ärmer ist als der gepflegte Boden der zivilisierten Länder, erzielt man nur 12 bis 18 Hektoliter Getreide pro Hektar, d. h., nur die Hälfte von dem, was die Farmen Europas und der Weststaaten von Amerika tragen. Und dennoch produzieren daselbst dank den Maschinen, welche es zwei Menschen ermöglichen, in einem Tage zwei und einen halben Hektar zu bestellen, hundert Menschen in einem Jahre soviel als nötig ist, um 10 000 Personen innerhalb eines ganzen Jahres das Brot bis in ihre Behausung zu liefern.

Es genügt also, daß ein Mensch unter diesen Bedingungen dreißig Stunden oder sechs halbe Tage à 5 Stunden arbeite, um für das ganze Jahr Brot zu haben – und dreißig halbe Tage, um es einer Familie von 5 Personen zu sichern.

Wir werden auch noch an der Hand von Daten, die dem gegenwärtigen, praktischen Leben entnommen sind, beweisen, daß bei einer intensiven Landwirtschaft sechzig halbe Arbeitstage vollauf genügen würden, um jeder Familie das Brot, das Fleisch, die Gemüse und selbst die Luxusfrüchte zu liefern.

*

Wenn man andererseits die Preise studiert, auf welche sich heute die Arbeiterhäuser der Großstädte belaufen, so kann man sich überzeugen, daß ein Arbeiterhäuschen, wie in England für eine Familie berechnet, höchstens den Wert von 1400 bis 1800 halben Arbeitstagen à 5 Stunden repräsentiert. Und da das Alter eines solchen Hauses auf wenigstens 50 Jahre zu berechnen ist, so ergibt sich, daß eine Arbeit 28–36 halben Tagen im Jahre einer Familie eine gesunde, ziemlich elegante und mit allem notwendigen Luxus ausgestattete Wohnung verschaffen würde, während heute der Arbeiter, der sich eine solche Wohnung mietet, seinem Eigentümer den Wert von 75 bis 100 Arbeitstagen pro Jahr zu entrichten hat.

Empfohlene Zitierweise:
Pjotr Alexejewitsch Kropotkin, Bernhard Kampffmeyer (Übersetzer): Die Eroberung des Brotes. Der Syndikalist, Berlin 1919, Seite 73. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Eroberung_des_Brotes.pdf/89&oldid=- (Version vom 3.6.2018)