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in den corpus juris, den man unter dem Namen „römisches Recht“ studiert, sowie die verschiedenen auf den Universitäten gelehrten Wissenschaften haben uns daran gewöhnt, an die Regierung und an die Tugenden des Vorsehungs-Staates zu glauben.

Philosophische Systeme sind ausgearbeitet und gelehrt worden, um dieses Vorurteil zu erhalten; Rechtstheorien sind zu dem gleichen Ziele aufgestellt worden. Die ganze Politik basiert auf diesem Prinzip, und jeder Politiker, von welcher Farbe er auch sei, wird stets zum Volke sagen: „Gebt mir die Macht; ich will, ich kann Euch von dem Elend befreien, welches auf Euch lastet.“

Von der Wiege bis zum Grabe stehen wir unter der Herrschaft dieses Prinzips. Oeffnet ein beliebiges Buch der Soziologie, der Jurisprudenz und ihr werdet finden, daß die Regierung, ihre Organisation, ihre Handlungen einen derartigen großen Raum einnehmen, daß wir schließlich zu dem Glauben kommen müssen, es gäbe nichts weiter auf der Welt, als Regierungen und Staatsmänner.

Der gleichen Litanei begegnen wir in allen Tonarten in der Presse. Ganze Spalten sind den Debatten der Parlamente, den Intriguen der Politiker gewidmet: das tägliche, gewaltige Leben einer Nation kommt höchstens in einigen wenigen, einen ökonomischen Gegenstand behandelnden Zeiten zur Geltung – gelegentlich eines neuen Gesetzes oder (unter „Verschiedenes“) durch Vermittlung der Polizei. Und wenn Ihr diese Journale liest, so kommt Ihr nicht auf den Gedanken, daß es außer einigen Persönlichkeiten, die alles neben sich in Schatten stellen, die man in den Himmel hebt, und die nur durch unsere Unwissenheit groß sind, noch eine unberechenbare Anzahl von Wesen, – die ganze Menschheit fast – gibt, die da leben und sterben, die Schmerzen erdulden, die arbeiten und konsumieren, denken und schaffen.

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Wenn man sich dagegen vom Papier zum Leben selbst wendet, wenn man einen Blick auf die Gesellschaft wirft, so wird man betroffen von der unendlich geringen Rolle, welche die Regierung in Wirklichkeit spielt. Balzac hatte schon die Bemerkung gemacht, wie viele Millionen von Bauern während ihres ganzen Lebens mit dem Staate nicht in Berührung kommen, ausgenommen, daß sie an ihn drückende Steuern bezahlen müssen. Jeden Tag werden Millionen von Verträgen ohne die Intervention der Regierung abgeschlossen, und die größten derselben – diejenigen im Handel, an der Börse – werden in einer Form abgeschlossen, daß die Regierung im Falle eines Vertragsbruches nicht einmal angerufen werden kann. Sprechet mit einem Manne, der des Handels kundig ist, und er wird Euch sagen, daß die vielen Tauschakte, welche täglich zwischen den Handelstreibenden stattfinden, ein Ding der Unmöglichkeit wären, wenn sie nicht auf gegenseitigem Vertrauen basiert wären. Die Gewohnheit, sein Wort zu halten, der Wunsch, seinen Kredit nicht zu verlieren, reichen vollständig hin, um diese – wenn auch äußerst relative – Ehrenhaftigkeit, die Handelsehre, zu bewahren. Derselbe Mann, der nicht Gewissensbisse empfindet, seine Kundschaft mittels unreiner, aber mit prunkenden Etiquetten ausgestatteter Waren zu vergiften, betrachtet es als Ehrensache,

Empfohlene Zitierweise:
Pjotr Alexejewitsch Kropotkin, Bernhard Kampffmeyer (Übersetzer): Die Eroberung des Brotes. Der Syndikalist, Berlin 1919, Seite 25. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Eroberung_des_Brotes.pdf/41&oldid=- (Version vom 21.5.2018)