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zu tragen; und eine ganze Nation – Ungarn – hat auf seinem Eisenbahnnetz den Zonentarif eingeführt, nach welchem die Zurücklegung einer Strecke von 500 oder 1000 Kilometer den gleichen Preis kostet. Von hier ist es nicht weit mehr zum Einheitspreis, wie er im Postdienst durchgeführt ist. In allen diesen modernen Errungenschaften und tausend anderen liegt die Tendenz vor, die Konsumtion nicht zu bemessen. Jener will 1000 Kilometer zurücklegen, ein anderer nur 500. Dieses sind persönliche Bedürfnisse, und es ist kein Grund dafür vorhanden, den einen zweimal so viel als den andren bezahlen zu lassen, weil das Bedürfnis ein doppelt so großes war. Alle die Phänomene zeigen sich schon in unseren heutigen individualistischen Gesellschaften.

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Es liegt unstreitbar, so schwach sie auch noch sein mag[WS 1], die Tendenz vor, die menschlichen Bedürfnisse von der Größe der Dienste, welche der Mensch der Gesellschaft geleistet hat oder leisten wird, unabhängig zu machen. Man gelangt dahin, die Gesellschaft als ein Ganzes zu betrachten, von dem jeder Teil so intim mit dem anderen verknüpft ist, daß der einem Individuum erwiesene Dienst ein Allen erwiesener Dienst ist.

Wenn ihr in eine öffentliche Bibliothek – nicht die Nationalbibliothek von Paris, sondern, sagen wir, in die Londons oder Berlins – eintretet, so fragt der Bibliothekar euch nicht, welche Dienste ihr der Gesellschaft geleistet, um euch je nach erfolgter Antwort das eine oder die fünfzig erbetenen Bücher zu geben; und nötigenfalls unterstützt er euch auch, wenn ihr die gewünschten Bücher im Katalog nicht zu finden versteht. Wenn man ein für alle gleichmäßig bemessenes Eintrittsgeld erlegt – und sehr häufig ist es eine Steuer in Form einer Arbeitsleistung, die man jetzt vorsieht –, macht die wissenschaftliche Gesellschaft ihre Museen, ihre Gärten, ihre Bibliothek, ihre Laboratorien, ihre jährlichen Feste usw. einem jeden ihrer Mitglieder zugänglich, sei dies ein Darwin oder ein einfacher Amateur.

Wenn ihr in Petersburg einer Erfindung nachgehen wollt, geht ihr in eine besondere Werkstatt, wo man euch einen Platz, einen Werktisch, eine Drehbank, alle notwendigen Werkzeuge, alle Meßinstrumente, vorausgesetzt, daß ihr sie zu handhaben versteht, anweist; – dort läßt man euch arbeiten, so lange es euch gefällt. Eure Idee vereint euch mit Kameraden verschiedener Berufe, wenn ihr es nicht vorzieht allein zu arbeiten, erfindet die Flugmaschine oder erfindet sie nicht – das ist eure Sache. Eine Idee leitet euch – das genügt.

Fragt ferner die Bemannung eines Rettungsbootes die Matrosen eines sinkenden Schiffes nach ihren Namen? Sie schifft sich ein, wagt ihr Leben in den wütenden Wogen; sie ertrinkt auch zuweilen, um denen das Leben zu retten, welche sie nicht einmal kennt. – Und warum sollte sie sie kennen? „Man bedarf unserer Dienste; es sind menschliche Wesen dort; das genügt, ihr Recht auf unsere Hilfe sieht fest. – Retten wir sie!“

Das ist die Tendenz, und zwar eine Tendenz eminent kommunistischer Art, welche sich überall geltend macht, unter allen möglichen

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: mga
Empfohlene Zitierweise:
Pjotr Alexejewitsch Kropotkin, Bernhard Kampffmeyer (Übersetzer): Die Eroberung des Brotes. Der Syndikalist, Berlin 1919, Seite 22. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Eroberung_des_Brotes.pdf/38&oldid=- (Version vom 3.6.2018)