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ganze Generationen sind hingeschlachtet worden, die europäischen Staaten verwenden ein Drittel ihres Budgets auf Rüstungen; – und man weiß, was die Steuern sind und was sie dem Armen kosten.

Die Erziehung bleibt das Privilegium einer verschwindenden Minorität. Denn kann man von Erziehung sprechen, wenn das Kind des Arbeiters gezwungen ist, mit 10 Jahren, oft schon früher, in der Industrie tätig zu sein, oder dem Vater bei schwerer landwirtschaftlicher Arbeit zu helfen? Darf man dem Arbeiter, der abends mit zerschlagenen Gliedern von einer langen, aufgezwungenen und stets abstumpfenden Arbeit heimkehrt, von Studien sprechen?! Die Gesellschaft spaltet sich in zwei feindliche Lager, und unter diesen Umständen ist die Freiheit ein bloßes Wort. Fordert der Radikale auch zuweilen eine größere Ausdehnung der politischen Freiheiten, so wird er sich indessen gewöhnlich bald bewußt, daß der Hauch der Freiheit leicht zu einer Erhebung des Proletariats führen kann; und dann macht er Kehrt, ändert seine Meinung und nimmt zu Ausnahmegesetzen und zur Regierung mittels des Säbels seine Zuflucht.

Ein großer Apparat von Gerichtshöfen, Richtern, Henkersknechten, Gendarmen und Kerkermeistern ist zur Stütze der Privilegien notwendig; und dieser Apparat wird selbst wieder der Ursprung für ein ganzes System von Angebereien, Täuschungen, Drohungen und Korruptionen.

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Außerdem wirkt dieses System der Entwicklung gesellschaftlicher Empfindungen entgegen. Ein Jeder sieht ein, daß ohne Redlichkeit, ohne Selbstachtung, ohne Mitgefühl, ohne gegenseitige Unterstützung die Gattung verkommen muß, ebenso wie die Tiergattungen, die nur vom Raube und der Knechtung leben, verkommen. Aber dies ist keine Warnung für die herrschenden Klassen, sie erfinden eine ganze, absolut falsche „Wissenschaft“, um das Gegenteil zu beweisen.

Man redet wohl allerlei Schönes über die Notwendigkeit, den Besitz mit denen zu teilen, welche nichts besitzen. Aber wer es sich einfallen lassen sollte, dieses Prinzip in Wirklichkeit umzusetzen, der wird sogleich belehrt, daß alle solche hohen Empfindungen wohl in die Dichtung gehören – aber keineswegs in das Leben. „Lügen“, denken wir, „das heißt sich erniedrigen, sich demütigen“ – gleichwohl wird aber das ganze zivilisierte Leben mehr und mehr zu einer immensen Lüge. Wir gewöhnen uns, gewöhnen unsere Kinder daran, mit einer doppelgesichtigen Moral, als Heuchler zu leben. Und widersetzt sich dem unser Gehirn, so gewöhnen wir es an den Sophismus. Heuchelei und Sophisterei werden die zweite Natur des zivilisierten Menschen.

Aber eine Gesellschaft kann nicht so leben; sie muß zur Wahrheit zurückkehren oder verschwinden.

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So erstreckt die einfache Tatsache der Kapitalkonzentration ihre verhängnisvollen Konsequenzen über das gesamte soziale Leben. Unter

Empfohlene Zitierweise:
Pjotr Alexejewitsch Kropotkin, Bernhard Kampffmeyer (Übersetzer): Die Eroberung des Brotes. Der Syndikalist, Berlin 1919, Seite 8. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Eroberung_des_Brotes.pdf/24&oldid=- (Version vom 21.5.2018)