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keines der Wunder unseres Jahrhunderts hätte in Erscheinung treten können, gearbeitet. Aber diese Tausende von Philosophen, Gelehrten, Erfinder sind selbst wieder nur durch die Arbeit vergangener Jahrhunderte angeregt worden. Sind sie nicht während ihres Lebens ernährt und erhalten worden (in körperlicher wie geistiger Beziehung) durch Legionen von Arbeitern und Handwerkern aller Art? Haben sie nicht ihre treibende Kraft aus ihrer ganzen Umgebung geschöpft?

Das Genie eines[WS 1] Séguin, eines Mayer und eines Grove haben sicherlich mehr dazu getan, die Industrie auf neue Bahnen zu lenken, als alle Kapitalisten der Welt. Aber diese Genies sind selbst wieder nur die Kinder der Industrie, nicht weniger als die der Wissenschaft. Denn es war notwendig, daß Tausende von Dampfmaschinen von Jahr zu Jahr unter Aller Augen die Wärme in dynamische Kraft und diese wieder in Schall und Licht und in Elektrizität umsetzten, bevor diese genialen Geister den mechanischen Ursprung und die Einheit der physischen Kräfte proklamieren konnten. Und wenn wir, die Kinder des 20. Jahrhunderts, endlich diese Idee begriffen haben, wenn wir verstanden haben, sie praktisch zu verwenden, so rührt dies wieder nur daher, weil wir durch die Masse der Erfahrungen aller früheren Tage fast darauf gestoßen wurden. Die Denker des verflossenen Jahrhunderts hatten sie gleichfalls erfaßt und ausgesprochen: aber sie war unbegriffen geblieben, weil das 18. Jahrhundert nicht wie wir mit der Dampfmaschine aufgewachsen war.

Man denke nur, wie lange Jahre noch in Unkenntnis jenes Gesetzes, welches uns erlaubte, die ganze moderne Industrie zu revolutionieren, verflossen wären, wenn nicht Watt in Soho Arbeiter gefunden hätte, die geschickt genug waren, seine theoretischen Anschläge in Metallkonstruktionen und in vollendeter Form aller Teile auszuführen, und so den Dampf, eingeschlossen in einem vollständigen Mechanismus, gelehriger wie das Pferd, fügsamer wie das Wasser, zur Seele der modernen Industrie gemacht hätten.

Jede Maschine hat die gleiche Geschichte: eine lange Geschichte erfolglos durchwachter Nächte, von Enttäuschungen und Freuden, von partiellen Verbesserungen, ausfindig gemacht durch mehrere Generationen unbekannter Arbeiter, welche der primitiven Erfindung jene kleinen Unbedeutenheiten hinzufügen sollten, ohne welche die fruchtbare Idee unfruchtbar geblieben wäre. Ueberhaupt jede neue Erfindung ist eine Verbindung – ein Resultat von tausend vorangegangenen Erfindungen auf dem unermeßlichen Gebiete der Mechanik und Industrie.

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Wissenschaft und Industrie, das Wissen und seine Anwendung, Erfindung und ihre Verwirklichung, die wieder zu neuen Erfindungen führt, Gehirnarbeit und Handarbeit – Gedanke und Muskelanstrengung – alles steht in inniger Verbindung. Jede Entdeckung, jeder Fortschritt, jede Vermehrung des Reichtums der Menschheit hat seinen Ursprung in der Gesamtheit von Hand- und Hirnarbeit der Vergangenheit und Gegenwart.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: eine
Empfohlene Zitierweise:
Pjotr Alexejewitsch Kropotkin, Bernhard Kampffmeyer (Übersetzer): Die Eroberung des Brotes. Der Syndikalist, Berlin 1919, Seite 5. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Eroberung_des_Brotes.pdf/21&oldid=- (Version vom 21.5.2018)