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müßte? – Es wäre also wenigstens ganz ebenso logisch, dort anzufangen und alsdann zu sehen, wie manchen Bedürfnissen durch die Produktion Genüge schaffen kann.

Und das ist unser Standpunkt.

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Wenn wir aber von diesem Gesichtspunkt die politische Oekonomie betrachten, so wechselt sie total ihr Aussehen. Sie hört auf, eine einfache Beschreibung von Tatsachen zu sein und wird eine Wissenschaft mit dem gleichen Rechte, wie die Physiologie: man kann sie dann definieren als das Studium der menschlichen Bedürfnisse und der Mittel, diese mit dem möglichst geringen Verlust an menschlichen Kräften zu befriedigen. Ihr wahrer Name ist dann: Physiologie der Gesellschaft. Sie würde eine Parallelwissenschaft der Physiologie der Pflanzen oder der Tiere sein, die sich ihrerseits das Studium der Bedürfnisse der Pflanzen oder des Tieres und der vorteilhaftesten Mittel, diese zu befriedigen[WS 1], zum Ziel setzt. In der Reihe der soziologischen Wissenschaften wird alsdann die Oekonomie der menschlichen Gesellschaft den Platz einnehmen, den heute in der biologischen Wissenschaft die Physiologie der organischen Wesen einnimmt.

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Wir sagen: „Hier sind menschliche Wesen zu einer Gesellschaft vereinigt. Alle fühlen das Bedürfnis, gesunde Häuser zu bewohnen. Die Höhle des Wilden genügt ihnen nicht mehr. Sie beanspruchen für sich ein solides Wohnhaus, mehr oder weniger komfortabel. – Es handelt sich nun darum, zu wissen, ob bei der gegebenen Produktivität der Arbeit ein Jeder sein Haus erhalten kann, oder was dem im Wege steht.“

Und wir sehen sofort, daß jede Familie in Europa vollkommen ein komfortables Haus, wie man es in England oder Belgien erbaut, oder doch eine ihren Ansprüchen entsprechende Wohnung haben könnte. Eine gewisse Anzahl von Arbeitstagen würde genügen, um einer Familie von 7 bis 8 Personen ein niedliches und geräumiges, gesundes und mit Gas erleuchtetes Haus zu schaffen.

Doch neun Zehntel der Europäer haben niemals ein gesundes Haus besessen, weil von jeher der Mann aus dem Volke Tag um Tag, fast unausgesetzt, arbeiten mußte, um die Bedürfnisse seines Herrn zu befriedigen; und er hat niemals die nötige Zeit und das notwendige Geld gehabt, um sich das Haus seiner Träume zu erbauen oder erbauen zu lassen. Und er wird auch nicht ein Haus bekommen, er wird ständig in einem wahren Stalle leben, so lange nicht die gegenwärtigen Verhältnisse sich geändert haben.

Wir schlagen, wie man sieht, den entgegengesetzten Weg wie die Oekonomisten ein. Diese verewigen die Gesetze der Produktion, und, indem sie eine Berechnung über die Häuser, die heute jährlich erbaut werden, anstellen, beweisen sie an der Hand der Statistik, daß die neuerbauten

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: befridigen
Empfohlene Zitierweise:
Pjotr Alexejewitsch Kropotkin, Bernhard Kampffmeyer (Übersetzer): Die Eroberung des Brotes. Der Syndikalist, Berlin 1919, Seite 139. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Eroberung_des_Brotes.pdf/155&oldid=- (Version vom 27.8.2018)