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Für uns ist es aber augenscheinlich, daß sich eine Gesellschaft nicht auf zwei absolut entgegengesetzten Prinzipien, zwei Prinzipien, die ständig mit einander in Widerstreit geraten müssen, basieren läßt. Und die Nation oder die Kommune, die sich eine derartige Organisation gibt, würde gezwungen sein, entweder zum Privateigentum zurückzukehren oder sich unmittelbar in eine kommunistische Gesellschaft umzugestalten.

III.

Wir haben von gewissen kollektivistischen Schriftstellern gesagt, daß sie eine Unterscheidung zwischen qualifizierter oder professioneller Arbeit und einfacher Arbeit fordern. Sie behaupten, daß die Arbeitsstunde des Ingenieurs, des Architekten oder des Arztes als zwei oder drei Arbeitsstunden des Schneiders, des Maurers oder des Krankenwärters gerechnet werden müßte. Dieselbe Unterscheidung muß, wie sie sagen, gegenüber jeder Arbeit, die im Verhältnis zu den Verrichtungen des Tagelöhners eine mehr oder weniger lange Lehrzeit erfordert, gemacht werden.

Nun, diese Unterscheidung machen, heißt alle Ungleichheiten der gegenwärtigen Gesellschaft aufrecht erhalten. Es heißt im Voraus eine Scheidungslinie ziehen zwischen den Arbeitern und Denen, welche sie zu beherrschen beanspruchen. Es heißt die Gesellschaft in zwei streng von einander geschiedene Klassen teilen, die Aristokratie des Wissens über dem Plebs der schwieligen Hände thronen lassen, die eine der andern dienstbar machen; die eine soll mit ihren Armen schaffen, um die zu ernähren und zu kleiden, welche ihre Muße dazu benutzen, ihre Ernährer beherrschen zu lernen.

Es bedeutet nichts weiter, als einen der charakteristischen Züge der gegenwärtigen Gesellschaft herausgreifen und ihm die Sanktion der sozialen Revolution geben. Es heißt einen Mißbrauch, den man heute schon in der absterbenden alten Gesellschaft verdammt, zum Prinzip zu erheben.

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Wir wissen, was man uns erwidern wird. Man wird uns von „wissenschaftlichem Sozialismus“ sprechen. Man wird die bürgerlichen Oekonomisten – und auch Marx – anführen, um zu beweisen, daß die Lohnskala ihre Berechtigung hat, da die „Arbeitskraft“ des Ingenieurs der Gesellschaft mehr gekostet hat als die „Arbeitskraft“ des Erdarbeiters. Und haben uns die Oekonomisten nicht auch wirklich zu beweisen gesucht, daß der Ingenieur 20 Mal so hoch honoriert wird als der Erdarbeiter – weil die „gesellschaftlich notwendigen“ Kosten, um einen Ingenieur zu erzeugen, höher sind als die, welche die Heranbildung eines Erdarbeiters erfordert. Und haben die Marxisten nicht behauptet, daß dieselbe Unterscheidung ebenso logisch und notwendig zwischen den verschiedenen Zweigen der Handarbeit sei? Die mußten so schließen, da Marx, von der Werttheorie Ricardos ausgehend, behauptet hatte, daß die Produkte und die Arbeitskraft sich austauschen nach Maßgabe der in ihnen enthaltenen gesellschaftlich notwendigen Arbeit.

Aber wir wissen auch, was wir von dieser Behauptung zu halten haben. Wir wissen, daß, wenn der Ingenieur, der Gelehrte, der Arzt

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Pjotr Alexejewitsch Kropotkin, Bernhard Kampffmeyer (Übersetzer): Die Eroberung des Brotes. Der Syndikalist, Berlin 1919, Seite 129. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Eroberung_des_Brotes.pdf/145&oldid=- (Version vom 3.6.2018)